Foltergefängnisse in Syrien: Den Kerker im Kopf

Damaskus taz | Muhammad Dauds Schwester Nahed zeigt auf ihrem Handy ein Video des Moments, als ihr Bruder zum ersten Mal seit 13 Jahren wieder sein Zuhause betritt: Er sieht erschöpft aus, starrt ungläubig auf seine Familie, die Freunde und die Nachbarn, die ihn freudig in seinem Zuhause am Rande der Altstadt von Damaskus empfangen. Er scheint niemanden zu erkennen. Und wirkt, als stünde er neben sich, als sehe er einen Film an, an dem er selbst nicht beteiligt ist. Seine Mutter weint. Jemand hebt den grauen Pullover des Mannes an: „Er ist es, er hat ein Muttermal an der gleichen Stelle.“

Es sind Muhammad Dauds erste Schritte in Freiheit. Eigentlich ein Freudentag – hätte Muhammad im Kerker des nun gestürzten Diktators Baschar al-Assad nicht buchstäblich seinen Verstand verloren. Dreizehn Jahre hat er in Syriens berüchtigtster Haftanstalt Sednaya verbracht, im Volksmund auch bekannt als „der Schlachthof“.

Nahed Daud, seine Schwester, sagt: Muhammad hätten sie erst nach stundenlanger Suche in den riesigen Trakten des Gefängnisses entdeckt. „Wir haben ihn erst nicht gefunden. Dann sagte uns jemand, da gebe es noch eine Küche. Dort gab es drei Räume: Einer war voller Leichen, der andere voller Knochen und im letzten fanden wir vier Männer. Einer davon war mein Bruder“, erzählt sie. Die Türen waren offen, aber die Männer und ihr Bruder trauten sich nicht nach draußen. „Als wir ihn fanden, fragten wir ihn: Wie heißt du? Er sagte: Ich bin eine Nummer, wenn ich meinen Namen nenne, bringen sie mich um.“

Nachdem Muhammad ein paar Tage zu Hause verbracht hatte, erzählt sie, brachte die Familie ihn in ein Krankenhaus in Damaskus. Wann er wieder nach Hause kommt, kann keiner sagen. „Es ging einfach nicht mehr“, erzählt sein Vater Usama Daud. „Der Kopf meines Sohnes ist bei dem alten Regime, im Gefängnis und in der Folter stecken geblieben. Möge Gott ihn heilen.“ Sein Sohn habe niemanden mehr erkannt, nur unzusammenhängende Dinge geredet. Er glaubte, er sei immer noch im Gefängnis, erklärt der Vater.

Seine Mitgefangenen habe er zur Exekution bringen müssen

Sednaya war kein normales Gefängnis. Nahed Daud hat aus den unzusammenhängenden Erzählungen rekonstruiert, was ihrem Bruder dort wohl zugestoßen ist – und warum er so traumatisiert ist. Er habe vor allem tiefe Schuldgefühle und wolle jeden vor den Gefängniswärtern retten, schildert sie. Er habe seine Mitgefangenen zu den Exekutionen bringen und anschließend ihren Puls checken müssen. Wenn sie tot waren, habe er sie zu einer großen Presse, in der sie zusammengequetscht wurden, bringen müssen. Die Knochen habe er dann in Plastiktüten einsammeln und in einen gesonderten Raum bringen müssen. Alternativ habe er die Toten zu einer Grube bringen müssen, in der die Leichen mit Säure übergossen wurden, erklärt sie.

Die Geheimdienste des alten Regimes hatten es auf die Familie Daud wohl ganz besonders abgesehen: Sechzehn Familienmitglieder landeten während des Aufstands gegen Assad im Jahr 2011 im Gefängnis. Sie hatten bei einem der Cousins einen Laptop gefunden, mit Fotos von Verhaftungen und Checkpoints, die er mit der Opposition geteilt hat. Der Luftwaffengeheimdienst hatte die Internetverbindung bis in ihr Haus verfolgt.

„Unser Haus war voll mit Menschen. Denn der Teil unserer Familie, die in der ländlicher Umgebung von Damaskus lebte, war damals vor den Kämpfen zwischen den Rebellen und den Regimetruppen in unser Haus in die Innenstadt geflohen“, blickt Nahed Daud zurück. Das Regime habe damals praktisch alle jungen Männer mitgenommen. Der Besitzer des Laptops wurde im Gefängis getötet. Die meisten wurden später wieder freigelassen – außer Muhammad und einen Cousin, den die Familie immer noch sucht. Wahrscheinlich wurde er ebenfalls in einem der Gefängnisse des Assad-Regimes ermordet.

Nahed Daud holt Muhammads Personalausweis hervor. Das Foto darauf zeigt ihn als jungen Mann, 23 Jahre alt. Dann zeigt sie Bilder, wie er heute – 13 Jahre später – aussieht. Körperlich ist er älter geworden, auch an Gewicht hat er verloren.

„Du bist nicht mehr im Gefängnis“, sagt der Bruder

Muhammad liegt im Al-Muwaseh-Krankenhaus am anderen Ende der Stadt. Muhammads Bruder Maher Daud ist gerade zu Besuch, er saß selbst drei Jahre in Assads Kerker. Muhammad liegt in einem Einzelzimmer im Bett. Die Ärzte haben ihm eine Beruhigungsspritze gegeben. Er ist immer noch in einem Zustand der totalen Verwirrung.

„Er erkennt weder mich noch seinen Bruder“, sagt seine Mutter, die neben ihm am Bett steht und sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund hält. Muhammad glaube immer noch, er sei im Kerker. „Habe keine Angst, wir sind keine Mitgefangenen oder Wärter. Du bist nicht mehr im Gefängnis“, erklärt Maher Daud und streicht seinem Bruder liebevoll übers Gesicht.

„Schließt die Türe“, fordert Muhammad vehement. „Immer wenn die Türe aufgeht, greift er nach uns und sagt: Passt auf, sie werden auf euch schießen. Und dann tastet er unsere Rücken ab, um sicherzugehen, das wir nicht erschossen worden sind“, berichtet seine Schwester. „Überall sind Kameras“, warnt Muhammad in seinem Krankenzimmer.

Er nennt die Kameras „Gott“. „Zu Hause hatte er auf den Heizstrahler geblickt und gefragt, ob Gott mit ihm zufrieden sei“, erzählt seine Schwester. Die Familie habe ihn dann gefragt, wer Gott sei. Er habe ihnen erklärt: „Gott beobachtet dich mit seinen Computern, und wenn er einen Knopf drückt, öffnet sich die Zellentür“.

Traumatisiert in Assads Folterknästen

Muhammad greift an die Arme der Menschen um ihn herum. Er fühlt ihren Puls. „Gut, du lebst noch,“ sagt er. Dann fährt er mit der Hand den Arm entlang, und sagt: „Du bist nicht von der Säure verbrannt, das ist auch gut.“ „Was sie hier medizinisch für ihn tun können, ist begrenzt. Er braucht dringend eine echte Behandlung“, sagt sein Bruder Maher.

Als wir ihn fanden, fragten wir ihn: Wie heißt du? Er sagte: Ich bin eine Nummer, wenn ich meinen Namen nenne, bringen sie mich um.

Nahed Daud, Schwester von Muhammad

Muhammad Daud ist kein Einzelfall. Einige der befreiten Gefangenen aus den Kerkern Assads wurden dort zutiefst traumatisiert. Bisher sind sie und ihre Familien mit diesem ­Problem vollkommen allein gelassen. Und ob die Täter jemals zur Rechenschaft gezogen werden, ist wieder eine andere Frage. Assads Regime ist Geschichte. In den Köpfen der Menschen wird es aber wohl noch lange weiterleben.

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