Beim Reisen auf Ideen kommen: Seifenblasen und Adrenalinsucht

A uf die Schönheit von Doberdol bin ich nicht vorbereitet. Es ist fast Abend, als wir nach einem Tag Bergwanderung das entlegene Dorf erreichen, am Dreiländereck zwischen Albanien, Montenegro und Kosovo. Und plötzlich tut es sich auf: ein Tal auf 2.000 Metern, so still und majestätisch, dass es den Himmel zu berühren scheint. Satte grüne Wiesen ziehen sich bis an die Hänge hinauf, reife Heidelbeersträucher wuchern überall, und vor uns ein Bach wie aus einem Gemälde – Asphalt gibt es nicht. An den Hängen grasen endlose Herden von Schafen, Kühen, Ziegen. Es ist ein Ort, der völlig in sich ruht. Dabei ist das Hirtendorf Doberdol, das nur im Sommer bewohnt ist, mittlerweile gut besucht von Tourist:innen. Doch die Wandernden fallen hier kaum auf. Sie kommen abends und ziehen am nächsten Morgen weiter. Und ich stehe und staune.

Gute Reisemomente haben etwas vom Runner’s High im Sport oder von Meditation: eine magische Seifenblase, wo nur der Augenblick zählt. Das Gedankenkarussell steht für einen Moment still. In dieser Welt, wo wir längst wissen, wie eine Palme aussieht, wie ein Affe klingt und was der Eiffelturm ist, ist es kostbar, überwältigt zu sein. In Doberdol befällt mich eine Sehnsucht, alles hinter mir zu lassen. Ein paar Monate als Hirtin hier leben, Gemüse pflanzen, Beeren ernten, Käse machen, Schafe halten. Diese Sehnsucht ist erfahrungsgemäß schnell wieder kurierbar – zuletzt, bei tadschikischen Yakhirten, reichte dafür ein Tag monotones Rumsitzen und Yakjoghurt zum Frühstück, Mittag und Abendessen. Aber wir reisen ja nicht nur, um anderes zu sehen. Sondern auch, um anders zu fühlen.

Doberdol ist die entlegenste Etappe auf dem boomenden Peaks of the Balkans-Trail, der in Albanien auch mal Coca-Cola-Trail heißt, weil findige Einheimische überall Softdrinkbuden installiert haben. In jedem Dorf wird fieberhaft gebaut, mancherorts die ersten Hotelkomplexe. Aber immer noch sind die entlegeneren Etappen menschenleer, wie in einem präindustriellen Traum. Und wenn ich einfach immer weitergehe? Wie der legendäre Karl Bushby, der seit 1998 als erster Mensch die Erde umwandert? Auch dieser Impuls ist mir auf Reisen vertraut. Und auch der hat ein Ablaufdatum.

Magische Berge und Täler, Tag für Tag, werden mit der Zeit einfach der nächste Berg und das nächste Tal. Die kleinen Wanderblessuren werden nervig. Und dann wird mir langweilig. Es ist wie mit dem Hirtenleben, schätze ich: Wir Kinder des Neoliberalismus sind zu adrenalinsüchtig für ein idealisiertes Aussteigerleben. Vielleicht ist das okay so. Die magische Seifenblase fühlt sich ja nur deshalb kostbar an, weil sie irgendwann platzt.

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