taz: Herr Hofreiter, gibt es noch Hoffnung für die Ukraine?
Anton Hofreiter: Ja, weil die ukrainischen Soldaten sehr entschlossen sind. Einer von ihnen hat mir jüngst gesagt, dass er natürlich nicht zurück an die Front will. Man könne sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich es dort ist. Aber die Alternative sei, dass die russische Armee komme, massenhaft foltert, vergewaltigt und mordet. Also kämpft er weiter.
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taz: Die Anzahl der Deserteure steigt, allein im Oktober sollen 20.000 Soldaten desertiert sein.
Hofreiter: Wir können uns die Lage an der Front nur schwer vorstellen. Durch die Drohnen gibt es nicht mal mehr eine klare Frontlinie, sondern einen 50 Kilometer breiten Frontbereich, in dem du als Soldat keine Minute sicher bist. Das ist im Grunde für einen Menschen nicht ertragbar.
taz: Die militärische Lage ist schlecht, die USA sind als Unterstützer weggebrochen, die Korruptionsvorwürfe sind massiv: Was ist aus Ihrer Sicht aktuell das größte Problem?
Hofreiter: Dass die Europäer immer noch nicht ausreichend verstanden haben, dass die USA kein Verbündeter mehr sind und wir für unsere Sicherheit selber sorgen müssen. Es muss endgültig Schluss sein mit der Naivität, die man sich zum Teil jahrelang gegenüber Russland geleistet hat, sich teilweise immer noch gegenüber China leistet und jetzt auch noch gegenüber den USA.
taz: Was folgt daraus konkret?
Hofreiter: Erstens müssten wir uns in vielen Bereichen unabhängiger machen von den USA, aber auch von China. Zweitens müsste man der Ukraine alles geben, was sie braucht. Seit Herr Merz Kanzler ist, hört man vom Taurus leider nichts mehr. Taurus und andere Waffen würden aber einen Unterschied machen. Drittens müsste man die Ukraine auch finanziell anders unterstützen. Deren Rüstungsindustrie läuft wegen Geldmangel immer noch nicht mit voller Auslastung.
taz: Laut einer Prognose des IWF braucht die Ukraine für die nächsten beiden Jahre 135,7 Milliarden Euro. Die EU-Kommission möchte ihr Gelder aus dem russischen Staatsvermögen zur Verfügung stellen, die in Europa angelegt waren und nach Kriegsbeginn eingefroren wurden. Aber das ist umstritten, weil Russland rechtlich dagegen vorgehen könnte.
Hofreiter: Das rechtliche Risiko beim Plan der Kommission halte ich für gering. Die Ukraine könnte einen Teil ihrer Reparationsforderungen an ihre Darlehensgeber abtreten und dann verrechnet man die Schäden, die Russland angerichtet hat, mit den eingefrorenen Vermögen.
taz: Ein Großteil dieser Vermögen liegt in Belgien und die dortige Regierung lässt sich bislang nicht überzeugen. Beim nächsten Europäischen Rat am 18. Dezember steht das Thema wieder auf der Tagesordnung. Wie könnte es noch gelingen?
Hofreiter: Deutschland, Frankreich und andere Länder müssten noch mehr Druck ausüben und gleichzeitig die belgische Regierung gegen Drohungen der USA finanziell absichern. Trump möchte die eingefrorenen Vermögen selbst nutzen und könnte Belgien mit Strafzöllen belegen. Die Drohungen wirken, weil Belgien sowieso mit dem Rücken zur Wand steht. Da müsste die Bundesregierung sagen: Wir helfen euch und halten dagegen.
taz: Friedrich Merz engagiert sich doch in der Sache, ist am Freitag sogar spontan zu einem Gespräch mit dem belgischen Premierminister nach Brüssel gereist. Was genau soll er noch machen?
Hofreiter: So wie Merz die Schuldenbremse in Deutschland geöffnet hat, müsste er es auch auf europäischer Ebene machen. Ähnlich wie Angela Merkel übergangsweise bei den europäischen Aufbauhilfen nach Corona deutlich flexibler war.
taz: Finanzgarantien in Form von gemeinsamen europäischen Schulden also? Das ist doch eine Illusion – und dürfte der deutschen Öffentlichkeit und auch der CDU schwer zu vermitteln sein.
Hofreiter: Das ist halt das Problem, wenn du einen Wahlkampf gegen die Wirklichkeit führst. Merz jagt seine Partei immer wieder auf den Baum und hat dann ein Problem, weil er sie brutal wieder runterholen muss.
taz: So wie Sie jetzt über Merz reden: Vermissen Sie eigentlich Olaf Scholz?
Hofreiter: Ich finde es interessant, wie ganz unterschiedliche Rhetoriken zu verblüffend ähnlicher Politik führen können.
taz: Was wären die Alternativen zur Finanzierung der Ukraine, wenn der Weg über die eingefrorenen Vermögen nicht klappt?
Hofreiter: Die Alternativen sind keine guten. Entweder landet man wieder bei gemeinsamen Schulden in der EU. Oder es kommt aus den europäischen Staatshaushalten, wofür aber nur noch Deutschland, Norwegen und ein paar kleinere Länder die finanzielle Kraft hätten. Oder die Ukraine kollabiert. Das käme uns am teuersten zu stehen.
taz: Oder aber: Die Frage hat sich schon vorher erledigt, weil die aktuellen Verhandlungen zwischen Russland, den USA und der Ukraine den Krieg beenden.
Hofreiter: Die Ukraine kann den Deal, den die USA vorschlagen, nicht annehmen. Er sieht vor, dass sie ihre stärksten Verteidigungsstellungen räumt. Ich glaube auch nicht, dass der 28-Punkte-Plan so modifiziert werden kann, dass er zu Frieden führt. Würde die Ukraine Gebietsabtretungen im Gegenzug für harte Sicherheitsgarantien zustimmen, würde Russland nicht einschlagen.
taz: So wie sich die Lage entwickelt, hat die Ukraine aber immer weniger Verhandlungsmacht. Wenn sie jetzt nicht zustimmt, könnte dann die Lage nicht noch schlimmer werden?
Hofreiter: Egal, wie schlecht die Verhandlungsposition der Ukraine ist: Die Menschen dort sind sich bewusst, dass dieser Plan nicht der Endpunkt des Krieges wäre, sondern nur eine Zwischenetappe. Ihnen stünde unter noch schlechteren Bedingungen der nächste Krieg bevor. Deswegen werden sie nicht zustimmen.
taz: Der einzige Weg zu einem dauerhaften Frieden ist aus Ihrer Sicht also ein militärischer Sieg der Ukraine?
Hofreiter: Kein Sieg. Aber die Lage muss so sein, dass Putin seine Kalkulation ändert. Putin sieht derzeit keinen Grund, den Krieg zu beenden, weil es läuft ja gar nicht so schlecht für ihn. Man kann einen Krieg dann beenden, wenn alle Konfliktparteien ein Interesse daran haben – also muss man dafür sorgen, dass auch Putin ein Interesse daran bekommt. Dieses Interesse gewinnt er erst dann, wenn seine Armee nicht mehr vorankommt.
Anton Hofreiter, Grüne
taz: Sie halten das trotz allem noch für machbar: Dass Europa die Ukraine so unterstützt, dass sie Russland wirklich stoppen kann – selbst wenn die USA dauerhaft als Partner ausfallen?
Hofreiter: Ja, ich halte es für machbar. Wir sind als Europäer eine der reichsten Regionen der Welt. Warum brauchen 500 Millionen Europäer 340 Millionen Amerikaner, um sie vor einem Land mit 140 Millionen Einwohnern zu schützen?
taz: Die Mehrheit in Deutschland glaubt nicht mehr daran, dass man Russland in der Ukraine entscheidend schwächen kann – oder nur mit großem Risiko, weil sich Russland dann wehrt. Dann sind wir bei der Gefahr der Eskalation.
Hofreiter: Ehrlich gesagt bin ich mir gar nicht so sicher, ob das so ist. Viele Leute haben doch das Gefühl, Putin agiert wie ein Schulhof-Bully. Wenn du dem mit Appeasement und Schwäche begegnest, werden die Angriffe nicht aufhören, sondern stärker werden. Und dazu kommt schon ein gewisses geschichtliches Bewusstsein. Auf Veranstaltungen zur Ukraine werde ich oft auf die Appeasement-Politik von Chamberlain angesprochen. Ich habe das Gefühl, dass das Verständnis zumindest in einem Teil der Bevölkerung deutlich größer ist, als man das in Berlin wahrnimmt.
taz: Was bräuchte es neben mehr Waffen und mehr Geld für die Ukraine noch?
Hofreiter: Eine stärkere Durchsetzung der Sanktionen. Auch da wäre Deutschland gefordert. Man könnte zum Beispiel die Schattenflotte, mit der Russland weiter Öl verkauft, durch die Umweltgesetzgebung stoppen.
taz: Und wie?
Hofreiter: Mit Marpol etwa, das hat mir die Marine erklärt.
taz: Dem Internationalen Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe?
Hofreiter: Ja, die Ostsee ist als vulnerables Gewässer klassifiziert und man könnte dort die gesamte Schattenflotte mit der Umweltgesetzgebung stoppen. Die russische Schattenflotte besteht aus älteren, schlecht gewarteten Tankern, die gezielt zur Umgehung internationaler Sanktionen eingesetzt werden. Sie fallen häufig durch Flaggenwechsel, gefälschte Versicherungsunterlagen oder die Verschleierung tatsächlicher Eigentümerstrukturen auf. Man müsste natürlich alle Tanker – also auch europäische, die nicht vernünftig versichert sind – stoppen und durchsuchen.
taz: Und wie soll das funktionieren? Sollen deutsche Sicherheitskräfte russische Tanker in der Ostsee stürmen?
Hofreiter: Es sind ja keine russischen Tanker, die fahren unter anderer Flagge. Aber ja, weil diese Schiffe eine Gefahr sind und Recht brechen. Eigentlich gibt es das Recht auf freie Passage, man hat auch das Recht, mit dem eigenen Auto durch eine Ortschaft zu fahren. Aber wenn man das mit 100 Stundenkilometern, betrunken und ohne TÜV tut, ist es eben nicht mehr erlaubt. Im übertragenen Sinn ist das genau das, was die russische Schattenflotte macht.
taz: Wer müsste da genau aktiv werden?
Hofreiter: Das ist spannend, weil dieses Umweltrecht noch nie so richtig durchgesetzt worden ist. Wahrscheinlich müssten sich für einen Teil der Ostsee Zollkriminalamt, Bundespolizei und Marine miteinander ins Benehmen setzen. In anderen Teilen wären Schweden und Dänemark zuständig.
taz: Reden wir zum Schluss noch über die aktuelle Korruptionsaffäre der ukrainischen Regierung: Wie sehr schwächt sie die Ukraine im Allgemeinen und Selenskyj im Speziellen?
Hofreiter: Sie schwächt Selenskyj im Speziellen. Ob sie die Ukraine allgemein schwächt, ist offen. Es könnte sie sogar stärker machen: Die Zivilgesellschaft und die Antikorruptionsbehörden haben einen Triumph errungen.
taz: Ab welchem Punkt wäre Selenskyj für den Westen kein legitimer Partner mehr?
Hofreiter: Er ist gewählt und hat die Ukraine zusammengehalten. Nur die Menschen in der Ukraine selber können entscheiden, ob sie Selenskyj als Präsidenten weiter haben wollen oder nicht.
taz: Muss Europa nicht einen kritischeren Blick drauf haben?
Hofreiter: Muss es. In der Ukraine selbst gibt es ja seit Jahren den Vorwurf, dass die Europäer zu nett waren und der ukrainischen Regierung zu wenig auf die Finger geklopft haben.
taz: Und wie müsste man wem mehr „auf die Finger klopfen“?
Hofreiter: Wenn man die eingefrorenen russischen Vermögen mobilisiert, muss Europa die Gelder hart konditionieren und einen genauen Blick darauf haben. Du kannst nicht immer nur der Good Cop sein. Die Europäer müssen sich auch trauen, der Bad Cop zu sein. Das haben sie diesen Sommer gut gemacht, als Selenskyj die Antikorruptionsbehörden entmachten wollte. Davor haben sie es viel zu lange schleifen lassen.







