Die verunsicherte Gesellschaft: Ich, ein Patriot?

V or Kurzem moderierte ich in Radeberg eine Veranstaltung. Ein älterer Herr sprach besorgt über den Verfall Deutschlands. Früher war das Leben stabiler und unbeschwerter. Die Parteien hätten versagt, meinte er, und fragte, ob die AfD eine Alternative sei? Ich atmete durch und antwortete ruhig: Das Wahlprogramm der AfD sei genauso neoliberal wie das der CDU, verwalte den Status quo und bedeute soziale Einschnitte. Wenn er mit dem Status quo unzufrieden sei, ändere die AfD daran wenig. Plötzlich schossen ihm Tränen in die Augen. Er wirkte verzweifelt und verletzt. Die Situation lässt mich nicht los.

Woher kommt diese Verletztheit und Verunsicherung, die ich oft bei weißen Deutschen wahrnehme – und das, egal ob links oder rechts?

Sie erinnert mich an meine Jugend, geprägt von der Suche nach Zugehörigkeit und Identität sowie der Anfälligkeit für Manipulation. Haben wir als Nation diese pubertäre Phase der Selbstfindung etwa nie überwunden?

Davon zeugt auch die Stadtbild-Debatte, ausgelöst durch Friedrich Merz bei einem Termin in Brandenburg. Er sagte: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der Bundesinnenminister auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“ Wenn wir ein Problem seien, nur weil wir nicht weiß sind, ist das eine nationalistische Tendenz. Das Politiklexikon der Bundeszentrale für politische Bildung definiert Nationalismus als eine Ideologie, die die Merkmale der eigenen ethnischen Gruppe überhöht, als absolut setzt und in dem übersteigerten Verlangen nach Einheit von Volk und Raum mündet.

Die einfachen Lösungen

Wie verunsichert ist unsere Gesellschaft, wenn sie Konformität braucht, um sich selbst zu erkennen? Liegt das daran, dass wir selbst nicht wissen, welche Werte unsere Gesellschaft ausmachen?

Und dann sind wir wieder bei einfachen Lösungen für Selbstvergewisserung. Nicht weiß? Nicht deutsch? Laut der Bundeszentrale für politische Bildung (2023) umfasst Nationalbewusstsein das Wissen über Zugehörigkeitskriterien, nationale Symbole und gegenseitige Erwartungen zwischen Individuum und Nation. Wobei Nationalbewusstsein und nationale Identität synonym verwendet werden können. Es sind also keine angeborenen Merkmale, sondern erlernbare. Damit kann auch jeder Mensch deutsch werden.

Aber wie soll diese nationale Identität entstehen, wenn verschiedene Gruppen in diesem Land immer wieder gedemütigt werden? Was ist eigentlich deutsche Identität? Der deutsche Philosoph Peter Trawny erklärt Adornos Sicht zu der Thematik so: Es gibt keine einfache, feststehende deutsche Identität. Stattdessen steht sie für einen ständigen Wandel und eine Nicht-Identität. Sie ist geprägt von einem schmerzlichen Bruch durch die Schoah und einem nie zu heilenden Riss. Deutsche Identität bedeutet, sich immer wieder kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich von belasteten Traditionen abzugrenzen. Diese Unsicherheit macht viele Heimatgefühle kompliziert.

Wir mussten uns immer wieder neu erfinden. Vom Flickenteppich der Fürstentümer über Kaiserreich, Weimar, NS-Zeit, Teilung bis heute. Gerade in Zeiten, in denen das europäische goldene Zeitalter versiegt, brauchen Menschen eine Identität, die Halt gibt. Vor allem im Land des Wirtschaftsmärchens kann man schlecht mit Unsicherheiten umgehen. Nach 1989 hätten wir eine inklusive deutsche Identität mit allen gesellschaftlichen Gruppen entwickeln müssen. Doch es gab keine Vereinigung auf Augenhöhe, sondern wieder den Drang nach Konformität. Diese verpasste Chance nutzte die Rechte. Die Linke überließ das Feld ohne Gegenangebot.

Konstruktive Patrioten

Während der Recherche entdeckte ich das Konzept von Jan Christopher Cohrs: „konstruktive Patrioten“. Das sind Menschen, die ihre Heimat lieben, andere nicht abwerten, demokratische Werte vertreten und kritisch den Staat beobachten. Sie halten die Gesellschaft zusammen, weil sie ihr Umfeld lieben und sich um dieses kümmern. Ich erkenne mich darin wieder.

Als Ossi of Colour bin ich mit Heimat, Toleranz und Demokratie verbunden. Ich liebe den Osten, sehe ihn aber auch kritisch. Für mich ist der Osten kein exklusiver Raum, sondern offen für alle, die die Regeln achten und anpacken. Auf Veranstaltungen merke ich, dass Menschen, die anders denken, oft meine Heimatgefühle teilen und überrascht sind, wie ähnlich wir sein können.

Ich, ein Patriot? Fühlt sich komisch an. Ich weiß, wie Deutsche, vor allem Linke, darauf reagieren. Aber ich darf freier denken als viele andere.

Das liegt daran, dass demokratische Grenzen für mich klar sind. Denn würde ich sie verlassen, würde es mir und meinen Liebsten schaden. Und das ist mein Problem mit dem Konzept. Aufgrund mangelnder Aufarbeitung der Geschichte sind die Grenzen für viele nicht eindeutig. Denn die Folge von Merz’ Aussage tragen am Ende Menschen wie ich und nicht unserer Kanzler. Mein Vorschlag also: Lasst uns der aktuellen Nicht-Identität eine demokratiefeste, deutsche Identität als Angebot entgegenstellen. Dazu müssen wir als Linke die Möglichkeiten schaffen, offen darüber sprechen zu können.

  • informationsspiegel

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