Klage der Marxistischen Abendschule: Ein Gespenst geht um im Verwaltungsgericht

Hamburg taz | Es klang nach einem Sieg für alle Marx-Lesekreise in diesem Land. Am 8. April dieses Jahres gewann die „Marxistische Abendschule Forum für Politik und Kultur“ (Masch) vor dem Verwaltungsgericht Hamburg gegen das Landesamt für Verfassungsschutz.

Das Gericht entschied, dass die Behörde den Hamburger Verein nicht mehr als linksextremistisch einstufen darf. Die Masch hatte erfolgreich gegen ihre Nennung im VS-Bericht von 2021 geklagt, wegen der ihr im selben Jahr die Gemeinnützigkeit aberkannt worden war. Im Gerichtssaal sei vorsichtige Euphorie spürbar gewesen, sagen Leute, die dabei waren. Man sei rausgegangen mit dem ungewohnten Gefühl, einen politischen Erfolg eingefahren zu haben.

Jetzt steht fest: Dieser juristische Sieg könnte sich als Bumerang entpuppen – und als Gefahr für alle Marx-Lesekreise in Deutschland. Das liegt an dem, was das Hamburger Gericht in seine schriftliche Urteilsbegründung vom 10. Juli geschrieben hat. Dass Gerichte die genauen Gründe für ein Urteil erst Wochen später schriftlich erklären, ist üblich. Was drin steht, überrascht aber.

Zwar bestätigt das Gericht das Urteil zugunsten der Masch und nennt ihr Auftauchen im Verfassungsschutzbericht damit rechtswidrig. Aber nur, weil den Mitgliedern die „aktiv-kämpferische Haltung“ fehle, um der Verfassung auch wirklich etwas anhaben zu können.

Gericht hält Marx für verfassungsfeindlich

Die Masch gibt es seit 1981. Sie ist in Hamburg vor allem für jährlich startende Lesekreise von Band eins des Kapitals bekannt, gibt aber auch Bücher heraus und veranstaltet Diskussionsveranstaltungen, oft in Räumen der Hamburger Uni. Sie sieht sich in der Tradition der Arbeiterbildungsvereine und der marxistischen Arbeiterschulen und setzt sich nach eigenen Angaben undogmatisch und kritisch mit marxistischer Theorie auseinander.

Dem Verfassungsschutz war der Verein unter anderem nicht geheuer, weil die Masch ursprünglich von der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) gegründet wurde, mit der sie immer noch eng verbandelt sei. Diesen Vorwurf räumte das Gericht schon im April ab und verwies darauf, dass heute nur eines von 26 Masch-Mitgliedern in der DKP ist.

Im ausführlichen schriftlichen Urteil geht es aber um mehr. Das Gericht erörtert die Frage, ob die Beschäftigung mit marxistischer Theorie grundsätzlich mit der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) vereinbar ist. Es findet: „Die auf die Theorien von Karl Marx zentrierte Betätigung des Klägers steht prinzipiell im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung.“

Dass die Werke und Lehren von Karl Marx im Zentrum der Aktivitäten der Masch stünden, gehe schon eindeutig aus dem Namen „Marxistische Abendschule“ hervor, fand das Gericht. Ein Problem, weil: „Die von Marx begründete Gesellschaftstheorie (…) dürfte in wesentlichen Punkten mit den (…) Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar sein.“ In der mündlichen Urteilsverkündung im April hatte das Gericht den Punkt so noch nicht ausgeführt.

Gefahr für alle Marx-Lesekreise

Der Rechtsanwalt Ridvan Ciftci, der die Masch vor Gericht vertrat, hält die Ausführungen des Gerichts für fahrlässig. Sie sage: Wenn eine Gruppe hauptsächlich Marx liest, ist das prinzipiell verfassungsfeindlich. Im Fall der Masch ist es nur okay, weil der Haufen unbedeutend genug und nicht „aktiv-kämpferisch“ drauf sei.

Nach der Einschätzung Ciftcis ist das eine Gefahr für alle Marx-Lesekreise in Deutschland. „Jeder Verein, der sich hauptsächlich auf Marx bezieht, kann damit Beobachtungsobjekt werden“, sagt der Anwalt. Insofern sei das Urteil, mit der die Masch sich eigentlich erfolgreich gegen ihre Einstufung als Ver­fas­sungs­fein­d*in­nen gewehrt hatte, potenziell ein Bumerang und zumindest ein juristischer Rückschritt.

Tatsächlich sind andere Gerichte in jüngster Zeit wesentlich entspannter mit der Theorie von Karl Marx umgegangen. Zum Beispiel entschied das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf eine Klage gegen die Beobachtung der Partei Die Linke, die sich in ihrem Programm auf Karl Marx bezieht, dass mit marxistischer Theorie „auch (lediglich) eine verfassungskonforme Umgestaltung der wirtschaftspolitischen Verhältnisse gemeint sein kann“ (Urteil vom 21. Juli 2010).

Das sieht das Hamburger Gericht anders. Es ist überzeugt, dass marxistische Theorie, mit der sich die Masch befasst, auf einen gewaltsamen Umsturz und nicht nur auf Reformen abzielt.

Marx falsch verstanden?

Den Einwand der Masch, ihre Auseinandersetzung beschränke sich auf eine bloße Kapitalismuskritik, lässt das Gericht nicht gelten. Er ziele darauf ab, „mit dem Wirtschaftssystem auch Staat und Gesellschaft vollständig umzuwälzen“, zitiert das Gericht die Webseite des Vereins.

Das Problem mit Marx sei diese Sache mit der „Diktatur des Proletariats“, argumentiert das Gericht und schlägt den Begriff noch einmal auf staatslexikon-online nach. Die schließe „zwangsläufig andere Bevölkerungsgruppen von der Teilhabe an der politischen Willensbildung und mittelbaren Ausübung der Staatsgewalt aus“. Also: undemokratisch!

Völlig falsch verstanden, findet Masch-Mitglied Michael Hopp. „Das Gericht tut so, als hätte Marx die Texte gestern geschrieben“, sagt Hopp. Außerdem könne man Marx durchaus als Demokrat verstehen. Gerade wenn man sich nicht wie das Gericht ausschließlich auf das Pamphlet „Das kommunistische Manifest“ bezieht. Der ältere Marx betone, die Mittel zur Veränderung seien der historischen Situation anzupassen.

„Marx würde heute alles andere empfehlen, als dass irgendwelche Horden auf den Bundestag zuströmen“, sagt Hopp. Zudem verkenne das Gericht die marxsche Theorie als Analyseinstrument und das Wesen der Masch als Bildungseinrichtung. „Die Vereinfachung liegt darin, dass man uns den Überschlag vom Wort in die Tat unterstellt. Dabei gucken wir aufs Wort und überlegen.“

Steht der Kapitalismus im Grundgesetz?

Das Urteil des Hamburger Verwaltungsgerichts berührt auch eine Frage, die in den vergangenen Jahren nach der Forderung „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ wieder mehr diskutiert wurde: Inwieweit legt das Grundgesetz, aus dem die freiheitlich-demokratische Grundordnung ja hervorgeht, eigentlich fest, dass die BRD kapitalistisch organisiert sein muss?

Dass, wie die Masch mit Verweis auf den Politologen Wolfgang Abendroth argumentiert, das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutral sei, fand das Hamburger Gericht, überzeuge nicht.

Es bleiben viele Fragen offen: Ist jetzt jeder Marx-Einführungskurs im ersten Semester verdächtig? Was genau heißt „aktiv-kämpferisch“? Steht eine radikale Gesellschaftskritik nicht notwendigerweise im Widerspruch zur Verfassung? Um solche und weitere Fragen zu klären, plant die Masch, die gerade noch überlegt, gegen das Urteil Berufung einzulegen, was sie am besten kann: eine Diskussionsveranstaltung.

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