Neues Album von Anika: Hinterm Bühnenrand lauert ein Abgrund

So viel ist klar: Zu lange sollte man nicht in den Abgrund blicken. Dass Anika an einer Idee oder einem Fixpunkt zu lange hängen bleibt, ist unwahrscheinlich, angesichts ihres rasanten künstlerischen Wandels der letzten Jahre.

Auch auf „Abyss“, dem neuen, dritten Studioalbum, schlägt die 38-jährige Deutsch-Britin wieder einen Haken und präsentiert sich diesmal kantiger und körperlicher. Für die Single „Hearsay“ setzt Anika an der Gitarre auf sägende Effekte und stolpernde Disruption, Verfremdungseffekte, die dem Grunge entlehnt sind und mehrmals aufblitzen.

Als verbindendes Scharnier zum bisherigen Werk dienen Anika die fortgesetzte Gespensterhaftigkeit, Lust zu Eingängigkeit, aber auch subtil wirkende Ohrwürmer wie „One Way Ticket“ und „Last Song“.

Jedes Werk ein Puzzle

Nach den mystisch umwehten Anfangszeiten und einem mit dem britischen Postrock-Trio Beak aufgenommenen Debütalbum (2010) folgten Features, etwa für Tricky und die in Mexiko gestartete Band Exploded View. Dann machte Anika mit dem introvertierten, klangfarblich bunten Puzzlespiel-Album „Change“ von sich reden, erschienen 2021.

Anika – „Abyss“

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Dessen aktivistische Erweiterung wurde als Auftragswerk für das Berliner Festival „Pop-Kultur“ als „Lost Voices“ (2023) konzipiert. Außerdem veröffentlichte sie damals ein ätherisch-ambientartiges Live-Album „Eat Liquid“. Daneben hat die britische Künstlerin weitere Beiträge für andere veröffentlicht.

Angesichts dieser hohen Schlagzahl verwundert es, als Anika im Interview mit der taz davon spricht, dass sie lange nicht wusste, ob überhaupt noch ein weiteres Soloalbum entstehen würde. „Abyss“, erzählt nun auch vom persönlichen und politischen Leben und Wirken der Künstlerin am Rande des Abgrunds.

Demokratie im Niedergang

Ihre Songtexte handeln von der Klimakrise, Demokratien im Niedergang und dem rasanten Aufstieg des Faschismus. Immer dazwischen: Subkulturen und vermeintliche Außenseiter, die ihre spärlichen Freiräume verteidigen müssen. „Abyss“ ist in Berlin entstanden, wo Anika lange Zeit auch als Journalistin tätig war.

Auf die Zeile „This city didn’t learn the lessons of its past“ angesprochen, antwortet sie: Die Stadt würde „gerade an Faschisten verkauft“. Und weiter: „Berlin war in den 1920er- und 30er-Jahren ein sehr queerer Ort mit einer großen Modeszene. Eine Menge Leute in Berlin denken heute, dass sie hier sicher sind. Aber der Wandel von der liberalen Metropole zu Hitlers Reichshauptstadt vollzog sich damals sehr schnell.“

Immer neue Bedeutungsebenen

Trotz der mal mehr, mal weniger offenen Anspielungen auf gesellschaftliche Zustände ist „Abyss“ keineswegs ein Agitprop-Album, das sich lediglich in Haltung und Sloganeering gefällt. Zu finden sind Songs, die auch nach mehrmaligem Hören neue Bedeutungsebenen freigeben, zunächst klaren Aussagen spielerische Mehrdeutigkeiten entlocken und Absurdität sowie Komik in harten Realitäten finden.

Musikalisch schöpft Anika aus einem rauen und rohen Sound, der zuweilen ins Lärmende kippt und mit nur minimal verwendeten Overdubs auskommt – weniger durchgestylt als „Change“, aber mit dem sich durch alle Veröffentlichungen ziehenden Hang zu eingängigen Melodien und doch komplexen Gesangslinien. Während „Change“ die endlose Introspektion und Abgeschiedenheit während des Corona-Lockdowns auf dem Land reflektiert, hört man „Abyss“ das Urbane an.

Es musste schnell gehen, um Dringlichkeit in Stil, Inhalt und Form einzufangen. Anika reiste im März 2024 mit einer Handvoll Demos nach Mexiko-Stadt zum alten Exploded-View-Bandkollegen und Langzeitkollaborationspartner Martin Thulin, brachte die Songfragmente in zehn Tagen entscheidend voran – nur unterbrochen von der Teilnahme am Women’s March am 8. März.

Wenige Wochen später ging es in die Hansa Studios, wo die Songs des Albums unter Live-Bedingungen neben Thulin, mit Drummer Andrea Belfi, Bassist Tomas Nochteff und Lawrence Goodwin an der Gitarre von den Toningenieurinnen Nanni Johansson und Frida Claeson Johansson aufgenommen wurden.

Reibung, Hektik und Vorläufigkeit im Entstehungsprozess vermengen sich zu neuer Härte. Die Zeiten der Verhandlung und des Herantastens sind vorbei, stattdessen erscheint Anika am Bühnenrand, schreiend, raunend und der Welt ihre mantrahaften Punchlines entgegenschleudernd – mal mit ohnmächtiger Wut, mal mit fast komödiantischer Absurdität, die aber immer mehr Energie gibt, als sie zieht.

„Ich möchte loslassen und mich der Musik hingeben, ohne Angst, jemanden zu beleidigen. Ich fühle mich zu Grunge hingezogen, weil er von der hässlichen Wahrheit handelt und oft ziemlich chaotisch und ziemlich ehrlich war.“

Und so ist „Abyss“ ein Album voller kathartischer Zacken geworden, das seine ganze Magie wahrscheinlich erst live entfalten wird.

  • informationsspiegel

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