Neues Einkaufszentrum in Hamburg: Fürs Shoppen gehen wir über Leichen

Hamburg taz | Erfolgsgeschichten haben doch eigentlich andere Zutaten. Als am Dienstagnachmittag erstmals auch ganz normale Leute reindurften in Hamburgs neuestes und größtes Einkaufszentrum, das „Westfield“ im Überseequartier, da hatte dieses Bau- und Stadtentwicklungsprojekt vor allem durch Rückschläge auf sich aufmerksam gemacht. Viel später als einst geplant ist die Mall fertig geworden, die so sehr gar keine sein möchte, zumindest keine wie alle anderen. Schließlich entstand hier nicht ein einzelnes Gebäude mit Ladenstraße und ein bisschen Drumherum, eher schon die Behauptung eines echten Stadtteils direkt am Wasser, zugänglich auch nach Ladenschluss – was die Läden angeht, halt nur bis zu den Schaufenstern.

Ursprünglich sollte sie 2021 fertig sein, später standen Eröffnungstermine im April sowie im Oktober 2024 im Raum. Der kolossale Neuling soll erkennbar mehr Bedürfnisse befriedigen als etwa die Europa-Passage in der Innenstadt, eines der jüngsten Hamburger Shopping-Dickschiffe (rund 120 Geschäfte auf 30.000 Quadratmetern, dazu Büro- und Parkgeschosse), dem es fortan Konkurrenz macht: Im Hafen werden künftig auch Kreuzfahrtschiffe abgefertigt, es entstanden Wohnungen, Büros und Hotellerie, ein süddeutscher Betreiber hat Hamburgs vorerst größtes Multiplex eröffnet (zehn Säle, knapp 2.200 Sitzplätze), auch das – in Norddeutschland – „erste dauerhafte Ausstellungszentrum für immersive Kunst“ kam unter.

Wo nun also ganz besonders viele Quadratmeter bereitstehen „für Einzelhandel, Gastronomie, Unterhaltung und Kultur“, klaffte jahrelang eine von Anfang an von Widerstand begleitete Baustelle, die sich auszeichnete auch durch eine wenig präsentable Spitzenposition: Es war europaweit die mit den meisten zu Tode gekommenen Arbeitern.

Mindestens sechs Menschen starben nach Gewerkschaftsangaben bei Unglücksfällen auf dem letzten großen Bauplatz des neuen Stadtteils: Fünf albanische Arbeiter starben, als im Herbst 2023 ein Baugerüst aus dem achten Obergeschoss in einen Fahrstuhlschacht stürzte. Nicht lange davor hatten die Behörden die Baustelle kontrolliert und diverse Mängel bei der Arbeitssicherheit festgestellt. So fehlten Absturzsicherungen, Verkehrswege waren den Angaben nach nicht sicher begehbar, die persönliche Schutzausrüstung der Arbeiter gegen einen Absturz nicht auf ihre Funktion geprüft. Ferner beklagten die Kon­trolleure zu wenig weisungsbefugtes Aufsichtspersonal mit Deutsch-Kenntnissen.

Westfield Mall in Zahlen

419.000 Quadratmeter Geschossfläche verteilen sich im neuen Einkaufszentrum auf 13 Gebäude. Den Anspruch, ein ganzes „Quartier“ errichtet zu haben, betonen ferner ein Kreuzfahrtterminal, Hotels und Büros. Auch für Gastronomie, Freizeit und Kultur sind 94.000 Quadratmeter vorgesehen.

Gekostet hat das Ganze 2,45 Milliarden Euro, so Betreiber Unibail-Rodamco-Westfield (URW) bei Fertigstellung – mehr als doppelt so viel, wie anfangs veranschlagt.

Auf mehr als 16 Millionen Besucher*innen jährlich beziffert

Unibail-Rodamco-Westfield

die Erwartungen an die neue Konkurrenz – oder Ergänzung – zur Hamburger Innenstadt.

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„Kollegen, deren Familien bis heute keine Entschädigung, geschweige denn eine Aufklärung darüber erhielten, wie es zu den regelmäßigen Unglücken auf der Baustelle kam“: Das schreibt die Gewerkschaft IG BAU in einer aktuellen Mitteilung anlässlich der „Westfield“-Fertigstellung. Ein weiterer Mann, ein Rumäne, war schon im Januar 2022 bei den Arbeiten zu Tode gekommen. Ferner waren mehrere Menschen bei mehreren Unglücksfällen schwer verletzt worden.

Kaum ein Thema, wenn es nun feierlich werden soll: „Das Gedenken an die sechs Arbeiter“, mutmaßten am Vorabend der Mall-Eröffnung auch die Hamburger Bürgerschafts-Linken, werde „im offiziellen Programm wohl kaum eine Rolle spielen“. Weshalb die Rede des Ersten Bürgermeisters Peter Tschentscher (SPD), all das Bänder-Durchschneiden und Korkenknallen und Zu-Sonderkonditionen-die-ersten-Tüten-Befüllen am Nachmittag auch begleitet werden sollte durch Protest gleich zweier Gewerkschaften.

Ab dem späten Vormittag wollte die IG BAU unter dem Motto „Ihre Mall – unser Grab“ mit einer Mahnwache im Stadtteil an die umgekommenen Kollegen erinnern, am Nachmittag, in etwa zur selben Zeit, wie sich die Mall-Pforten öffnen sollten, sollte daraus dann eine „Große Kundgebung“ werden. Daran nahmen bis zu 100 Menschen teil, in Redebeiträgen erinnerten junge Handwerker, aber auch eine Studierende der Hafencity-Universität an die strukturellen Hintergründe der Todesfälle: Subunternehmer-Dickicht und die Preisdrückerei durch einen Konzern, der im vergangenen Jahr rund anderthalb Milliarden Euro Umsatz gemacht habe.

„Keine Party auf Kosten der toten Arbeiter!“, so überschrieb wiederum die Freie Arbeiter*innen-Union (FAU) ihren Aufruf, die Feierstimmung zu trüben durch selbst organisierte, dezentrale Aktionen – Formulierungsvorschläge für Plakate oder Sprechchöre lieferte sie gleich mit: „Ein Denkmal für die Verstorbenen!“ etwa, „Für Streiks bei schweren Unfällen!“, oder die Forderung: „Kontrolle der Unternehmen statt Illegalisierung der Arbeitenden!“ So richtig bemerkbar waren am Nachmittag noch keine solcher Aktionen; aber die Eröffnungsfeierlichkeiten sollten ja auch noch bis 22 Uhr dauern.

Das Gelingen des Projekts hatte vor rund zehn Jahren Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) zur Chefsache gemacht: Frühere Investoren für die Entwicklung des prominenten Hafencity-Grundstücks waren abgesprungen, es drohte eine neuerliche Hängepartie wie schon bei der Elbphilharmonie. Scholz gewährte dem einzig interessierten Unibail-Rodamco-Westfield-Konzern das Doppelte an Einkaufsfläche, vermutlich wurden auch weitere Wünsche erfüllt: Alles, auf dass die Sache bloß gelinge (und die brachliegende Fläche verschwinde); eine Erfolgsgeschichte halt, und sei es zu einem hohen Preis.

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