Dates auf Jetskis, Dates beim Cocktail, Dates mit Bungeejumping und Tauchkursen – all das am Strand einer Insel in Südostasien, überall Kameras und Mikrofone, die wirklich alles aufzeichnen. Willkommen im „wunderschönen Thailand“, Staffel 11, Folge 1, „die Bachelorette“. Zwanzig Kandidat*innen, erstmals sowohl Männer als auch Frauen, konkurrieren um eine Beziehung mit der bisexuellen Bachelorette Stella. Jede Folge fliegt jemand raus, es heißt ja nicht umsonst „Trash TV“.
Für viele Zuschauer*innen findet dieses Guilty Pleasure nur noch begleitet statt. Denn immer mehr Content Creator*innen machen aus den Sendungen eigene Videos für ein ganz neues Publikum. Eine von ihnen heißt Silvi Carlsson. Ihre Analysen der letzten Staffel von „Die Bachelorette“ von RTL+ haben durchschnittlich etwa 150.000 Klicks und dauern knapp eine Dreiviertelstunde, also fast so lang wie eine Folge der Sendung selbst. „Hallo Freund*innen des guten Geschmacks“, grüßt sie ihre Zuschauer*innen, bevor sie sich tief in eine Folge Trash-TV eingräbt.
In den sozialen Medien sind Nach-besprechungen ein eigenes Genre mit einer beachtlichen Reichweite
Carlsson sitzt in ihrem warm ausgeleuchteten Wohnzimmer nah an der Kamera. Im Hintergrund glimmt eine Lavalampe, eine Bi-Pride-Flagge verdeckt das Fenster. Während sie spricht, schläft eine ihrer Katzen im Körbchen in der Ecke. Alles ist pastellfarben, die Stimmung gemütlich.„Geht’s heterosexuellen Frauen gut?“, fragt sie in ihrer Besprechung der letzten Staffel von „Die Bachelorette“. Die Frage ist berechtigt: Die männlichen Kandidaten geben in diesem Zusammenschnitt allerhand Unangenehmes von sich, sprechen ungefiltert über ihre Vorstellungen von Beziehungen und über ihr Frauenbild. Sie erklären zum Beispiel, warum sie ihrer Freundin zwar erlauben würden, mit einer anderen Frau zu schlafen, aber niemals mit einem Mann. Sie sagen Dinge wie „Also ich bin schon sehr besitzorientiert“ oder „Im Bett zählt eine andere Größe, haha“ und zwinkern dabei in die Kamera. Ganz normal im Reality-TV.
Carlsson ist nicht die einzige, die Content aus solchen Sendungen macht. In den sozialen Medien sind Nachbesprechungen ein eigenes Genre mit einer beachtlichen Reichweite. Rund 500.000 Mal wurden die Videos der drei größten Kommentator*innen von „Die Bachelorette“ zur Finalfolge aufgerufen. Im linearen Fernsehen verzeichnete die Sendung zuletzt sinkende Einschaltquoten, inzwischen gibt es sie nur noch beim bezahlpflichtigen Streamingdienst RTL+. Dort haben laut RTL nur etwa 200.000 Menschen die ganze Folge gesehen.
Vielfältige Perspektiven
Unter den Content Creator*innen gibt es eigene Stars, die in der Reality-TV-Blase berühmter sind als jene, die in der Sendung auftreten. Sie heißen Annikazion, La Polcevita, Calvin Kleinen oder Die Trashologinnen, sind auf Youtube, als Podcast, auf Instagram und Tiktok unterwegs. Sie interpretieren, analysieren, sprechen direkt mit ihren Zuschauer*innen, reagieren auf deren Kommentare zu vorherigen Videos. Die Perspektiven sind so vielfältig, dass sich jede*r den/die passende Kommentator*in für seine/ihre Lieblings-Trash-Sendung suchen kann. Manche Creator*innen beschränken sich auf Sendungen mit queeren Protagonist*innen, andere auf besonders skandalöse Folgen. Andere wiederum kommentieren alles, was sie finden können.
In den Shows geben die Protagonist*innen die Kontrolle darüber ab, was von ihnen gezeigt wird. Die Kameras sind möglichst unsichtbar, die Mikrofone der Teilnehmer*innen dürfen nie abgelegt werden. Die Zuschauer*innen werden zum „Big Brother“ und schauen einer Inszenierung der Fernsehsender zu, in der Szenen oft so zusammengeschnitten werden, dass die Unterhaltungen dramatischer scheinen, als sie sind. Die Creator*innen haben wiederum die Kontrolle darüber, welche dieser Szenen sie für ihre Analyse auswählen, können den Fokus passend zu ihrer Interpretation noch mal verschieben.
Feministische Analysen
Carlsson hat sich auf „feministische Analysen“ spezialisiert. „Ich will, dass vor allem Frauen das sehen und wissen, welche Verhaltensweisen angewandt werden, um Frauen in die Irre zu führen“, sagt sie. In ihren Besprechungen will sie also aufzeigen, wenn in den Shows diskriminiert wird, wenn die Protagonist*innen oder die Produktion sich problematisch verhalten. Das passiert oft. Zugleich sind die Videos unterhaltsam. Reality-TV produziert viele hochkomische Momente mit Vorlagen für genug Insiderwitze, um eine komplette Community am Leben zu halten. Durch die Auswahl der wichtigsten Szenen wird die Handlung in der Nachbesprechung dichter als in den Folgen, die oft stark gestreckt wirken.
In ihren Analysen durchbricht Carlsson das, was in den Trash-TV-Formaten als Normalität gilt: das ständige Wiederholen von sexistischen Klischees für neues Drama. Wie eine Schiedsrichterin stellt sie dem Inhalt, der betont unernst verkauft wird, ernste Fragen. Hat sich ein*e Kandidat*in übergriffig verhalten? War das gerade rassistisch? Sexistisch? In ihren Besprechungen gibt es Content-Warnungen vor besonders problematischen Szenen. Die Sprache, die Carlsson nutzt, ist radikal anders als in den Sendungen: Sie sagt „Ableismus“, „Strukturproblem“, „Misogynie“ oder „Neurodivergenz“.
Die Sender sind mit den Creator*innen eine Art Symbiose eingegangen. Sie arbeiten mit ihnen zusammen, erlauben ihnen etwa, einen Anteil der Sendung für ihren Inhalt zu nutzen. Denn da die Reaction-Videos im Gegensatz zu den zahlungspflichtigen Inhalten der Sender meist kostenfrei zu sehen sind, dienen sie als Werbung und bringen neue, besonders involvierte Zuschauer*innen.
„Nur als Reaction erträglich“
Für viele von ihnen findet Reality-TV nur noch als Meta-Fernsehen statt. Sie schauen ausschließlich die Analysen der Creator*innen, das zeigen die Kommentare unter den Videos: „dieses format ist echt nur als reaction von dir erträglich“, „Boar, ich bin so froh hier ‚betreutes gucken‘ zu haben, alleine würde ich das nie aushalten. Uuufffffff“ oder „Wie bin ich froh, dass du dieses Format kommentierst! Ich wollt es so gern gucken, aber ohne seelischen Beistand … no Chance! Danke, dass du uns da durch begleitest.“
In den Kommentarspalten finden sich viele Menschen, die einander in ihrem Blick auf die Welt ähneln. Ihre Rezeption der Sendung ist interaktiv, hier diskutieren sie weiter. Carlsson selbst vermutet, dass ihre Community ihre Videos unter anderem schaut, um sich des eigenen Wertesystems zu versichern. Denn beim Reality-TV treffen Menschen mit sehr verschiedenen Überzeugungen und Prägungen oft konfliktreich aufeinander. In der künstlichen Welt der Reality-Sendungen verhandeln die Kandidat*innen Grenzen, unakzeptables Verhalten, Alltagssexismus. Für ihre Zuschauer*innen sei es einfacher zu ertragen, solche Szenen gebrochen und kommentiert zu sehen, glaubt Carlsson: „Es tut gut, jemanden dazwischen zu haben, der sozusagen den Druck rausnimmt“. Wie Klatsch in vielen Freundschaften als Klebstoff dient, entstehen so eingeschworene Trash-TV-Safe-Spaces.