Regierungsbildung: Die kleine Groko hat einen Vertrauensvorschuss verdient

P utin führt im Osten weiterhin Krieg, im Westen demoliert Trump die Demokratie, und in Deutschland wird’s bald Merz: Nein, es ist derzeit nicht einfach, optimistisch nach vorn zu schauen. Aber es ist trotz allem möglich, auch Hoffnungsschimmerchen zu sehen und Chancen zu nutzen. Resigniertes Hadern hilft im Kampf um die Demokratie nur ihren Feinden. Denn die bleiben garantiert aktiv.

Deshalb zunächst eine erfreuliche Erkenntnis: Union und SPD, also die einzigen Parteien im Bundestag, die als Zweierbündnis eine Regierung ohne AfD bilden können, scheinen den Ernst der Lage realisiert zu haben. Jedenfalls haben sie bisher noch nicht öffentlich gestritten.

Auch Friedrich Merz hat seinen Ton deutlich gemäßigt und offenbar verstanden, dass er potenzielle Partner nicht mehr als „Spinner“ titulieren sollte. Rückfälle sind nicht ausgeschlossen, wären aber dumm. Das gilt auch für den Umgang mit den Grünen. Die werden zwar fürs Regieren nicht mehr gebraucht, aber vielleicht bald im Bundesrat – so staatstragend, wie sie sind. Nun lasset uns beten, dass auch Markus Söder das irgendwann begreift.

Ja, man wird bescheiden. Ein Mindestmaß an Höflichkeit und Anstand sollte für angehende Kanzler selbstverständlich sein, war aber für Merz ein Lernprozess. Jetzt gilt es, für die Koalition mit der SPD ein Mindestmaß an Vertrauen aufzubauen. Das wird noch schwerer, ist aber die Bedingung für ein Gelingen der Regierungsbildung, das sich alle realistisch denkenden Demokraten wünschen müssen. Dieses Daumendrücken ist neu und fühlt sich merkwürdig an.

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Die Demokratie kann nicht durch Harmoniesoße gerettet werden

Aber es ist eben nicht mehr allein das Problem von Union und SPD, ob sie sich zusammenraufen. Früher hätte man sich vielleicht gefreut, wenn eine Groko gescheitert wäre, weil ihre Existenz lähmend wirkte und Neuwahlen neue Chancen boten. Heute käme auch Kevin Kühnert nicht mehr auf die Idee #NoGroko. Die ist längst klein geschrumpft, muss aber die Existenz der Demokratie sichern. Weil es im Bundestag nur eine schreckliche Alternative gibt und Neuwahlen nur für Extreme aussichtsreich wären. Diese Lage legt auch der demokratischen Opposition und den Medien eine Verantwortung auf.

Natürlich sollten alle weiterhin kritisch bleiben und jeden Fehler benennen, den sie erkennen. Die Demokratie kann nicht durch Harmoniesoße gerettet werden. Aber auch nicht durch aufgebauschten Krawall. Gregor Gysi hat in seiner Eröffnungsrede im Bundestag zu Recht appelliert, friedenspolitisch Andersdenkende nicht als Kriegstreiber oder Putinknechte zu diskreditieren.

Bei der Beurteilung von Koalitionen ist Fairness schwer, weil es einen immanenten Widerspruch gibt: Einerseits sollen sie sich gefälligst einigen, damit regiert werden kann, andererseits unbedingt alle eigenen Versprechen einhalten. Das ging noch nie, aber gerade hat eindeutig die Kompromissbereitschaft Vorrang.

Ist es also wirklich nötig, jeden Verstoß gegen ein Parteiprogramm als Umfallen oder Verrat zu brandmarken? Manchmal ein schma­ler Grat: Kritik zu üben, aber nicht den Eindruck zu verstärken, dass in der Demokratie nur Versager am Werk seien. Auf den Ton kommt es an. Wer von Söder Sachlichkeit verlangt, sollte sie auch selbst aufbringen.

Lösbare Verteilungsfragen

Manchmal macht der Handlungsdruck sogar erfreulich vernünftige Großkompromisse möglich, etwa die Abkehr der Union von ihrem Antischuldendogma und die finanzielle Starthilfe der Grünen. In dieser Woche kam eine weitere glückliche Fügung durch ein Urteil aus Karlsruhe: der Fortbestand des Soli mit den dadurch gesicherten Steuern von Gutverdienern. ­Damit und mit dem Sondervermögen könnten Union und SPD relativ entspannt regieren. Dafür ist Vertrauen gut, aber viel Geld noch besser.

Die Verteilungsfragen bleiben kompliziert, sind aber lösbar. Problematischer ist die Migrationspolitik, vor allem für die Betroffenen, aber auch für die SPD, die unter dem Druck steht, harten Maßnahmen zuzustimmen. Nicht nur wegen Merz’ üblen Wahlkampfsprüchen. Eine klare Wählermehrheit, auch unter SPD-Anhängern, wünscht eine Begrenzung. Die Union wird trotzdem einsehen müssen, dass eine rigorose Abriegelung der Grenzen rechtlich, moralisch und europapolitisch nicht infrage kommt.

Das bedeutet einen weiteren Lernprozess für Merz, der sich durch die globalen Herausforderungen schnell beschleunigen dürfte. Es gibt weiß Gott andere Dringlich­keiten. Wenn sich die Lage in der ­Ukraine zuspitzt, der Zollstreit mit den USA eskaliert oder Trump und Putin noch gefährlichere Dinge machen, kann man nur hoffen, dass wir eine funktionsfähige Regierung haben, die sich an ihren klaren Auftrag hält: die Demokratie zu erhalten.

  • informationsspiegel

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