Rote Liste in Baden-Württemberg: Vorboten des Massensterbens

Berlin taz | Fast 500 Wildbienen- und Hummelarten gibt es in Baden-Württemberg, „fast jede zweite Art ist in ihrem Bestand gefährdet“, erklärt Ulrich Maurer, Präsident der dortigen Landesanstalt für Umwelt. Die hat in dieser Woche ihre neue „Rote Liste“ für Insekten veröffentlicht und Alarm geschlagen.

„Der Anteil der vom Aussterben bedrohten Wildbienen-Arten hat sich fast verdoppelt“, so Maurer – und zwar binnen der letzten 20 Jahre.

Schuld an dieser Entwicklung sind Menschen ganz direkt: Durch die zunehmende Zersiedlung verlieren Wildbienen ihren Lebensraum. Umweltchemikalien wie Pestizide vergiften sie oder Ackerpflanzen und Kräuter, auf die sie sich spezialisiert haben.

Andererseits leiden Wildbienen und Hummeln indirekt unter dem Menschen: Der Klimawandel macht ihr Überleben immer komplizierter. „Extreme Niederschläge und Dürren führen dazu, dass die Nester bodenbrütender Arten überschwemmt werden und benötigte Blüten verdorren“, erklärt Präsident Maurer. Für manche Spezies wird es zudem schlichtweg zu warm.

Viele Arten könnten für immer verschwinden

Ein kanadisch-britisches Forscherteam hatte in einer Langzeitstudie die Entwicklung Dutzender Hummelarten in Europa und Nordamerika dokumentiert – und festgestellt, dass ihre Anzahl massiv und flächen­deckend zurückgegangen ist.

Schuld seien längere und extremere Wärmeperioden, warnen die Biologen. Hauptautor Peter Soroye von der Universität Ottawa: „Wenn der Rückgang in diesem Tempo weitergeht, könnten viele dieser Arten innerhalb weniger Jahrzehnte für immer verschwinden.“

Hummeln sind als Bestäuber ähnlich wichtig wie Bienen. Weltweit werden fast 90 Prozent aller Blütenpflanzen von Insekten bestäubt, bei den Nutzpflanzen immerhin 75 Prozent. Als „Ökosystemdienstleistung“ bezeichnet die Wissenschaft diesen Aspekt des Insektenlebens, der ökonomische Nutzen der Bestäubung wird weltweit auf 153 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt.

In Deutschland sind noch etwa 40 Hummelarten heimisch, mittlerweile steht fast die Hälfte auf der bundesdeutschen „Roten Liste“. Die Samthummel beispielsweise wird in der neuen Liste Baden-Württembergs als „ausgestorben“ registriert, Mooshummel, Sandhummel oder die Vierfarbige Kuckuckshummel gelten nun als „vom Aussterben bedroht“.

Fehlen Hummeln und Bienen, ist das für Mensch wie Tierwelt ein Riesenproblem. Ohne Bestäuber gibt es keine Samen, ohne die Früchte undenkbar sind, von denen sich Singvögel oder Käfer ernähren, die wiederum für andere Arten wichtige Beutetiere sind.

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Viele dieser Arten könnten innerhalb weniger Jahrzehnte verschwinden

Peter Soroye, Biologe

Ein Großteil der Obst- und Gemüsesorten weltweit hängt von Bestäubern ab, gerade diese Früchte versorgen die Menschheit mit lebenswichtigen Nährstoffen wie Vitaminen, Calcium und Folsäure.

Der Vorbote Baden-Württemberg

Baden-Württemberg ist das Bundesland, in dem es das heißeste Klima in der Bundesrepublik gibt, und in vielerlei Hinsicht Vorbote: Lebte hier in den 1980er Jahren eine kleine Population von Gottesanbeterinnen rund um den Kaiserstuhl, so ist die ursprünglich aus Afrika stammende Fangschrecke heute in Berlin-Schöneberg heimisch.

Erstmals fand man 2007 Eier der „Asiatischen Tigermücke“ auf dem Rastplatz Rheinaue an der A 5, heute ist eine stabile Population rund um Jena nachgewiesen. Konnten Zecken früher nur ganz im Süden Borreliose-Bakterien oder FSME-Viren übertragen, so gilt wegen der gestiegenen Temperaturen seit 2019 auch das Emsland als Risikogebiet.

Einige wärmeliebende Arten können aus dem Süden zwar zu uns ziehen. Aber nicht jede heimische Art kann nördlich wandern: Wildbienen sind beispielsweise auf spezielle Pflanzen angewiesen, die es nördlicher nicht gibt.

Wissenschaftler warnen, dass der Wildbienen- und Hummelschwund Vorbote einer viel breiteren Aussterbewelle ist. Schon sehr bald drohe ein regelrechter Kollaps der biologischen Vielfalt, warnt ein Forscherteam um Alex Pigot vom University College London.

Viele Spezies kommen zeitgleich an ihr Limit

Für seine Studie hat es die Lebensbedingungen von mehr als 30.000 Meeres- und Landarten sowie die Klimaverhältnisse von 1850 bis 2100 analysiert. Ergebnis: In den vergangenen Jahrzehnten seien viele Spezies näher und näher an ihre jeweilige Temperaturschwelle gerückt, hätten sich gerade noch auf die neuen Verhältnisse einstellen können.

In Kürze aber sei bei vielen gleichzeitig das Limit erreicht. Bereits vor 2030 werde deshalb ein abruptes Massensterben in den tropischen Ozeanen einsetzen – und bis 2050 auch auf die tropischen Regenwälder und gemäßigte Breiten übergreifen.

In Deutschland leben schätzungsweise 71.900 Tier- und Pflanzenarten, darunter allein 33.300 verschiedene Insekten. Bis zu 30 Prozent davon könnten in den kommenden Jahrzehnten wegen des Klimawandels aussterben, konstatierte bereits 2008 ein Bericht der Bundesregierung. In den aktuellen Koalitionsverhandlungen spielen Klima und Artensterben eine Nebenrolle.

  • informationsspiegel

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