SPD-Mann fordert Untersuchungsausschuss: „Rassistische Gewalt müssen wir klar benennen“

taz: Herr Lindh, Sie haben den Prozess in Wuppertal lange begleitet. Wie haben Sie ihn erlebt?

Helge Lindh: Es war ein sehr belastendes Verfahren. Das Strafmaß, also lebenslange Haft, besondere Schwere der Schuld, Sicherungsverwahrung, war angemessen. Aber der entscheidende Punkt kam zu kurz: die Würdigung oder Prüfung der im Raum stehenden rassistischen Motive. Diese wurden faktisch vollständig beiseite geschoben, Ermittlungsfehler und Versäumnisse zu entschuldigend bewertet. Besonders irritierend war, dass die Staatsanwaltschaft betonte, allein die Herkunft der Opfer, des Täters und der Tatort Solingen reichten nicht für ein rassistisches Motiv – als gäbe es nicht zahlreiche vergleichbare Taten, deren Motive zu spät oder gar nicht anerkannt wurden.

Was fanden Sie genau belastend?Verteidigung, Staatsanwaltschaft und teils das Gericht wandten jede Energie darauf, mögliche rassistische oder rechtsextreme Motive abzuwehren oder sich an Anwältin Seda Başay-Yıldız abzuarbeiten. Das wirkte, als wolle man den Täter vor dem „Vorwurf des Rassismus“ schützen. Als sei es eine Herabwürdigung des Täters, wenn man rechtsextreme oder rassistische Motive benennt – das ist für mich eine Täter-Opfer-Verkehrung und ein grundfalscher Ansatz. Man kann nicht sagen: „Er hat doch jetzt die Höchststrafe, also was beschwert ihr euch?“ Für Angehörige und Überlebende zeigt es eine deutliche Empathielosigkeit: kaum bis gar kein Interesse, ihre Perspektive zu verstehen, stattdessen die Botschaft, es sei eine Zumutung, den Täter in diese Ecke zu stellen. Diese Muster müssen wir durchbrechen, indem wir rassistische Gewalt klar benennen und untersuchen, anstatt sie wegzudefinieren.

Im Interview: Helge Lindh

Helge Lindh ist der direkt gewählte Bundestagsabgeordnete der SPD für den Wahlkreis Wuppertal I.

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Was meinen Sie mit der Empathielosigkeit, die Sie im Verfahren beobachtet haben?

Empathielosigkeit zeigte sich für mich auf mehreren Ebenen. Zum einen wurden im Verfahren rassistische Begriffe ohne jede Rücksicht oder kritische Einordnung benutzt – von Personen, die selbst nicht von Rassismus betroffen sind. Es gilt frei nach Bill Clinton: It’s the language, stupid. Auf die Sprache kommt es an. Die von Staatsanwalt, Ermittlungsbeamten, Verteidigern und zum Teil Richter verwandte Sprache war regelmäßig unwürdig und krass unangemessen. Zum anderen ging es oft nur um juristische Abwägungen, aber kaum darum, die Perspektive der Angehörigen anzuerkennen. Stattdessen lag der Fokus auffällig stark darauf, eine rechtsextreme Motivation abzuwehren und das sowohl bei der Staatsanwaltschaft als auch bei der Verteidigung.

Brandanschlag in Solingen 2024

Der Anschlag Am 25. März 2024 starb in Solingen eine bulgarisch-türkische Familie mit zwei Kindern in einem Feuer: Katya, Kancho, Galia und Emily Zhilova. Mehrere Menschen wurden bei verzweifelten Sprüngen aus dem brennenden Haus schwer verletzt.

Das Urteil Der 40-jährige Angeklagte Daniel S. gestand die Tat und bekam Ende Juli die Höchststrafe und anschließende Sicherheitsverwahrung für den vierfachen Mord. Das Wuppertaler Landgericht stellte die besondere Schwere der Schuld fest, sah aber kein rassistisches Motiv – obwohl es zahlreiche Hinweise auf eine rechts­extreme Gesinnung gab.

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Was heißt das konkret?

Ich halte es nicht für selbstverständlich, dass man Nazi-Literatur in der Familie hat, rechtsextreme Musik hört oder Marschlieder aus der NS-Zeit abspielt. Dass die Staatsanwaltschaft solche Punkte nicht deutlicher problematisiert hat, ist für mich hochproblematisch. Unser Rechtssystem hat den Auftrag, die historische Realität nicht auszublenden: Wir können in Wuppertal nicht so tun, als gäbe es keine NS-Geschichte in Deutschland, keine Geschichte des Rechtsterrorismus und des mörderischen Rechtsextremismus in den letzten Jahrzehnten. Das muss immer Teil der Betrachtung sein, wenn wir über die Motivation einer solchen Tat sprechen. Hinzu kommt als ein wesentlicher Punkt, dass materiell und formell juristische Abwägung und historisch informierte Empathie mitnichten ein Widerspruch sind. Europäische Rechtsprechung und auch deutsches Recht im Schatten des NSU, ich nenne nur die aktuellen RiStBV (Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren) und das Strafgesetzbuch, verpflichten geradezu, bei Anhaltspunkten für „rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische Beweggründe“ umfassend zu ermitteln. Das betrifft frühe Ermittlungen wie auch spätere Nachermittlungen.

Halten Sie den Täter für einen Rassisten?

Ja – nach allem, was an Indizien bekannt ist. Und das schließt nicht aus, dass es weitere Tatmotive gab. Aber Rassismus ist hier ein relevanter Aspekt. Wir müssen uns fragen, wie rassistische Motive erkannt und bewertet werden. Ich sehe hier eine nicht hinreichende Beachtung der rassistischen Motive und ein Abwehrverhalten, bei dem diejenigen, die nicht betroffen sind von Rassismus, denjenigen widersprechen wollen, die zu Recht Rassismus ahnen, vermuten oder annehmen. Genau diese Haltung verstärkt den Eindruck, dass man das Thema lieber vermeiden möchte, anstatt es aufzuklären. Einer hohen Aufmerksamkeit der Staatsanwaltschaft für wissenschaftliche Ergründung der psychischen Disposition des Täters und für psychiatrisches Wissen steht leider auffallendes Desinteresse an gleichermaßen wissenschaftlicher Begutachtung von Rassismus wie auch von Rechtsextremismus gegenüber.

Dabei ist es nicht der erste und vermutlich nicht der letzte Fall, in dem ein möglicher rassistischer Hintergrund lieber vermieden wird.

Genau. In diesem Verfahren war es vor allem die Nebenklage, die diese Punkte immer wieder eingebracht hat. Ohne diesen Druck wären viele Aspekte vermutlich gar nicht thematisiert worden. Das ist nicht selbstverständlich – und ohne diese Arbeit wäre der Prozess noch stärker auf rein juristisch-technische Fragen reduziert worden, ohne den gesellschaftlichen Kontext herzustellen und die gesellschaftliche Dimension der Tat angemessen zu würdigen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Teile der Justiz 30 Jahre Rassismus-kritische Forschung nicht zur Kenntnis nehmen.

Was müsste politisch geschehen, damit rassistische Motive in solchen Verfahren konsequent verfolgt werden?

Wir haben nach dem NSU-Untersuchungsausschuss und auch nach Hanau gesehen, dass es an nachhaltiger Umsetzung der Empfehlungen hapert. Es braucht verbindliche Standards: Schulung, Sensibilisierung, externe Evaluation und die Bereitschaft, eigene Fehler zu benennen. Das ist keine Frage einzelner „schlechter Beamter“, sondern eine strukturelle Aufgabe. Auf Bundesebene ist es Aufgabe des Parlaments, dafür zu sorgen, dass rassistische Tatmotive genauso konsequent verfolgt werden wie andere. Das haben wir mit Gesetzesänderungen, etwa bei der Hasskriminalität, auch so festgeschrieben.

W elche konkreten Schritte sollte es jetzt geben?

Zum einen muss der Fall meines Erachtens in den zuständigen Ausschüssen behandelt werden, auch im Bundestag. Dort kann man prüfen, ob die Ermittlungen und die Bewertung der Motive mit rechtsstaatlichen Prinzipien und Standards und den politischen Zielsetzungen kompromissloser Aufklärung übereinstimmen. Zum anderen sollte es unabhängige Stellen geben, die solche Verfahren auswerten – nicht nur intern bei Polizei und Justiz. Generell sollte dies bei beteiligten Behörden und staatlichen Stellen in solchen Fällen die Regel sein. Wir brauchen Strukturen, die aus Fehlern lernen, anstatt in Abwehrhaltung zu gehen.

Es gibt nun auch von diversen Initiativen die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss. Was halten Sie davon?

Ich halte das für berechtigt. Nach dem NSU gab es Ausschüsse auf Bundes- und Landesebene, nach Hanau nur auf Landesebene. Für Solingen wäre ein Untersuchungsausschuss oder zumindest eine unabhängige Untersuchungskommission sinnvoll. Selbst Innenminister Herbert Reul und das LKA NRW haben Hinweise auf ein politisches Motiv ernst genommen – das zeigt, dass diese Fragen nicht nur von der Nebenklage kommen. Die politische Dimension ist da, und sie gehört vollständig aufgeklärt.

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