Wolfram Weimer und Gott: Wenn der fromme Wunsch zum „Fakt“ wird

W eihnachtsmärkte sind spirituelle Orte. Oder sollen es sein. „Sie schaffen Bewusstsein für eine heilige Zeit. Sie schaffen Türen in eine andere Welt und weiten den Horizont unseres Seins.“ So befand es Wolfram Weimer, der oberste Kulturträger Deutschlands. Also begab ich mich auf die Suche. Doch alles, was ich auf dem Markt auf dem Berliner Alexanderplatz vorfand, waren Würste, Schmalzgebackenes, Glühwein – eingeklemmt dazwischen zwei frierende Frauen, die Herrnhuter Sterne anboten. Aber keine Tür, kein Türchen, keine andere Welt. Da war nur ein großer Mann mit dunkler Haut unter dem Turban, neben dem Abgang in die U-Bahn-Welt, der „Quizas, quizias, quisaz“ sang. Sanft wie Nat King Cole. Ihm gegenüber stand ein kleinerer Mann mit einem Bauchladen voller Devotionalien des untergegangenen Kommunismus. Der lauschte, als ich kam, und lauschte noch, als ich ging. Und beide lächelten, obwohl ein kalter Wind über den Platz fegte.

Ich suchte weiter. Im letzten Buch von Wolfram Weimer, „Sehnsucht nach Gott“ – erschienen im Bonifatius Verlag in Paderborn, tief in der katholischen Diaspora –, heißt es, Gott kehre gerade wieder zurück „wie ein lange verschollener Vater“. Der Glaube an ihn werde Deutschland und Europa wieder in Ordnung bringen. Gegen die äußeren Feinde, vorzüglich den aggressiven Islam, und gegen die inneren Feinde. Was die angeht, macht Weimer kein großes Federlesen: Hegel, Bentham, Kant, Habermas, Derrida, Nietzsche, Feyerabend und die 68er. Sie werden in großen Töpfen mit den Etiketten Relativisten, Kulturmasochisten oder Religionszerschmetterer verrührt. Sie alle haben Europas „kulturelle Selbstschwächung“ befördert. Und damit die Staatlichkeit unterminiert und die Familie, die Keimzelle der Gesellschaft, die Ehrfurcht vor Größe, die Verwurzelung in unserer „Herkunft“, die tief in die Zeit vor 1933 reiche, und die „natürliche Aufeinander-Bezogenheit von Mann und Frau“. Ohne Christentum kein Staat, keine Grundrechte, keine Kinder – der rote Faden führt vom Verlust des Glaubens geradezu in die Zeugungsverweigerung. Der Unglaube lässt die Bürokratie wachsen, denn wo kein Gott die Tugend kontrolliert, braucht es kleinliche Kontrolle. Und wo die fromme Selbstverpflichtung schrumpft, „raubt uns (der Steuerstaat) unser Geld“. Anschlussfähig zur Mitte ist das nicht gerade.

Weimers Sehnsucht nach dem Vater, der von dannen ging, ist so groß, dass sie sogar Fakten überwältigen kann. Dass Menschen wieder dem Glauben zuströmen, die Kirchen füllen, dass die Zahl der kirchlichen Trauungen zunimmt – hier wird der fromme Wunsch zum Fakt. Und auch die Logik weicht gelegentlich dem Missionswillen. So lautet der Weimersche Gottesbeweis, ein Gläubiger sei ein „glaubwürdigerer Zeuge“ der Gegenwart Gottes als ein Atheist. „Denn Ersterer bezeugt etwas Manifestes. Letzterer behauptet etwas über jemanden, dessen Existenz er abstreitet. Das Sehen des Zeugen wiegt doch eigentlich schwerer als das Nicht-Sehen der Gegen-Zeugen.“

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Das letzte Mal habe ich so was von zwei jungen Herren in schwarzen Anzügen gehört, die alle Jahre wieder an meiner Haustür klingeln. Und auch, dass die Evolutionstheorie letztlich ein Glaube sei. Und wo eine Grenze der Erkenntnis sei, da müsse es doch „etwas“ hinter der Grenze geben. Auch diese jungen Herren aus Amerika hatten dieses erleuchtete Lächeln, diese Unberührbarkeit durch Fragen, Ablehnung, Beleidigungen, Kritik.

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Weimers Sehnsucht nach dem Vater, der von dannen ging, ist so groß, dass sie sogar Fakten überwältigen kann

Die FAZ nennt Weimer einen „Windbeutel“, die Süddeutsche Zeitung sein Medienimperiumchen ein „potemkinsches Dorf“, Söder gar findet es unappetitlich, Blaulicht und Gelderwerb zu verquicken. Und so möchte man einen Klingelbeutel verwetten, wenn man wüsste, warum Merz ihn ausgesucht hat. Mit unterkomplexer Schlichtheit und sauerländischem Katholizismus kann man es nicht allein erklären. Tiefer Glaube oder flaches Kalkül? Was auch immer, in jedem Fall bedient der neue Drang zum alten Jenseits die Ratlosigkeit einer kleinbürgerlichen Schicht, die im kalten Wind des „Fortschritts“ steht, sich fragt, warum das alles so ist, und etwas oder jemanden herbeisehnt, der einen Schutzwall baut – gegen den Tsunami der Veränderungen, der ihre Mittelstandswelten, Familienverbände, Einkaufszonen bedroht. Nichts Neues unter dem Himmel. Wenn der Glaube an diesseitige Gerechtigkeit und kleines Glück porös wird, war das Versprechen einer „anderen Welt“ im Jenseits, mit ein bisschen Lichterglanz, schon immer die Strategie der besitzenden Eliten.

Aber auch wenn wir den Himmel den Engeln und den Spatzen überlassen haben – natürlich ist auf Erden eine andere Welt möglich. Sogar mit Gott. In meiner Kirche der Wahl singt der Chor in diesem Jahr nicht nur das Weihnachtsoratorium, sondern auch das Magnifikat, Marias Gebet, als sie erfährt, dass sie schwanger ist. Das ist nicht nur eine Freude über ein neues Lebewesen, also die Möglichkeit von etwas Neuem, sondern auch ein Mission Statement: „Er übet Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Das Magnifikat ist, so predigte es einst Dietrich Bonhoeffer, „das leidenschaftlichste, wildeste … revolutionärste Adventslied“. Die christliche Marseillaise hat man es genannt, gelegentlich gar ein „bolschewistisches Machwerk“. Gott „mischt immer wieder unsere Karten neu“, so deutete Papst Franziskus das Magnifikat, „auch dort, wo die Marktwirtschaft, das Finanzwesen und die Geschäfte der Mächtigen den Gang der Dinge bestimmen“.

Gott kommt wieder? „Gott ist der leere Raum, den wir mit unseren Taten füllen“ schreibt die Philosophin Iris Murdoch. Und so gesehen wäre die Rückkehr Gottes kein Sedativum und keine reine Freude, sondern für uns normal Sterbliche eine starke Überforderung. Der Blick von Maria und dem Jesuskind in die Welt auf dem Dresdner Gemälde der Sixtinischen Madonna zeigt das: Beklommenheit angesichts der Trümmerhaufen. Und also: Es gibt viel zu tun. Quizas, quizas, quizas.

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