Zu Besuch beim Urologen: Der Duft der Großstadt

T ermine beim Urologen bedrücken mich überproportional, ich weiß gar nicht, warum. Also mehr noch als andere Arztbesuche. Vielleicht liegt es daran, dass bei meinem Urologen bereits das ganze Setting niederschmetternd ist. Seine Praxis liegt in einem verwinkelten Labyrinth innerhalb eines brutalistischen Betonensembles am Kottbusser Tor. Länger verweilen hier nur Junkies, selten sehe ich auch mal einen Bewohner mit zugehaltener Nase fluchtartig ins Freie huschen.

Bezeichnenderweise gleicht der Durchgang zum Urologen dem Inneren einer Harnröhre, eng, finster und nach Pisse stinkend. Das muss dieser Duft der Großstadt sein, von dem immer alle reden.

Und da gibt es viele Düfte. Als ich zwischen dem Flughafen Tempelhof und der damaligen Kindl-Brauerei wohnte, konnte ich je nach Windrichtung die Brauerei riechen, oder im Sommer bei offenem Fenster das Kerosin der landenden Flugzeuge. Unweigerlich befiel mich jeweils entweder die Lust auf Bier oder die auf Flugreisen. Auch im Industriegebiet südlich der Neuköllner Grenzallee, wo ich verschiedene Fabrikjobs hatte, rochen die Betriebe. Zum Teil sogar gut. Irgendwo war eine Riesenkaffeerösterei, und der Kuchendiscounter Thoben hatte dort seine Backfabrik.

Daran muss ich denken, als ich in der Harnröhre das Rad abschließe, während ich die Luft anhalte. Der stechende Gestank raubt mir fast den Atem, aber gleichzeitig habe ich auch eine Epiphanie: Aha, denke ich, Kindl – Bier, Thoben – Kuchen, Urologe – Urin. Das alles ist im Prinzip nichts anderes als Geruchswerbung. Die Methode verfängt bei mir auch jedes Mal todsicher, sobald ich an einem Hähnchenimbiss bloß von Weitem vorbeikomme. Allein vom Duft kriege ich da immer sofort Appetit auf Hähnchen.

Allerdings weicht die vom Aroma befeuerte Vorfreude hinterher stets einer seelischen Leere: Warum habe ich das getan? Das arme Tier schmeckt ja noch nicht mal gut. Warum können die nicht einfach nur diesen geilen Geruch verkaufen?

Aber so funktioniert das eben. Kapitalismus schafft Bedürfnisse. Und analog kommen hier die Leute vorbei, riechen die Pisse, sehen die gelben Gesichter und das Praxisschild und denken sich: Genau, jetzt weiß ich wieder, ich wollte doch längst mal zum Urologen. Und, bäng, schon hat der einen neuen Kunden.

Ein paar Schritte weiter in die Harnröhre hinein wird der Geruch noch intensiver. Ich glaube nicht, dass es ausschließlich daran liegt, dass ich mich der Praxis mit all ihren undicht leckenden Patienten darin nähere. Links geht es eine Treppe hoch, auf eine Art Galerie im ersten Stock.

Hier zeigt sich einmal mehr das leidige Misstrauen gegenüber der ehrbaren Gilde der Drogensüchtigen, denn am oberen Ende der Treppe befindet sich eine offene Gittertür, die nachts geschlossen wird, damit die Praxisräume und Büros dort nicht aufgebrochen werden. Unterhalb dieser Tür muss ich über einen quer auf den Stufen lagernden Typen hinwegsteigen, der sich dort zum Frühstück eine Substanz aufkocht. Was für eine, müsste ich raten, doch Kaffee ist es jedenfalls nicht. Den macht man ja nicht auf einer Alufolie, das weiß ich.

„Bin gleich weg“, beschwichtigt mich der junge Herr. Aus ihm spricht die Erfahrung, nirgends willkommen zu sein. Aber ich bin hier nicht der Hausmeister und auch kein Mieter. Kein Problem, beschwichtige ich ihn, meinetwegen soll er hier in Ruhe frühstücken. Ich bin selbst nur ein einfacher Patient der Urologie, ein Prostatajunkie, der sein trübes Pipi im spiralförmig gedrehten Strahl vertröpfelt, ohne die Blase jemals ganz zu leeren. So rein statusmäßig sitzen wir im doch im gleichen Boot.

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