Abschiebungen nach Afghanistan: Absichtlich vergessen?

D ie Taliban haben in Afghanistan vielerorts das Internet abgeschaltet. In Kabul geht es noch, aber ich habe Angst, dass das auch hier geschieht. Dass wir dann völlig abgeschnitten sind und die Welt uns vergisst.“ Das schrieb vor Kurzem Amira Salma*, eine promovierte afghanische Akademikerin. Nach einem aufwendigen Prüfverfahren hatte sie eine Zusage für das Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan bekommen, mit dem gefährdete Af­gha­n*in­nen nach der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 geschützt werden sollten.

Da Deutschland in Kabul keine Botschaft hat, läuft das Verfahren über die Botschaft in Islamabad, Pakistan. Nachdem Amira Salma die Aufnahmezusage bekommen hatte, konnte sie im März 2024 mit ihren vier Kindern nach Pakistan ausreisen. Ohne ihren Mann, denn der wurde kurz nach der Machtübernahme von den Taliban verhaftet und ist seitdem verschollen.



Bild: privat


Martin Sökefeld

ist Professor am Institut für Ethnologie der Ludwig-­Maxi­milians-­Uni­ver­si­tät München.

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Es ist eine komplizierte, monatelange Prozedur, im Fall von Salma dauert sie schon über ein Jahr. Die Botschaft forderte DNA-Tests von ihr, um zu belegen, dass die vier Kinder ihre eigenen Kinder sind. Die Tests musste sie selbst bezahlen, obwohl sie völlig mittellos war. Dann verlangte die Botschaft einen Nachweis, dass sie das Sorgerecht für die Kinder hat. Schwierig, wenn der Ehemann in den Kerkern der Taliban verschwunden ist und nichts dazu sagen kann. Das Bundesaufnahmeprogramm lief sehr schleppend, Anfang 2025 begann Pakistan, massiv Af­gha­n*in­nen abzuschieben. Die Bundesregierung versicherte stets, die Menschen im deutschen Aufnahmeprogramm seien vor den Abschiebungen sicher, aber das stimmte nicht. Im Sommer stürmte die pakistanische Polizei viele der Gästehäuser, in denen die Af­gha­n*in­nen untergebracht sind. Zahlreiche Familien wurden festgenommen und in ein Abschiebelager gebracht.

Einige wurden wieder freigelassen, insgesamt aber 248 Personen nach Afghanistan abgeschoben. Darunter auch Amira Salma. Sie kontaktierte aus dem Abschiebelager die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), die sich im Auftrag der Bundesregierung um die Af­gha­n*in­nen kümmern soll – und bekam keine Antwort. Am 15. August wurde sie abgeschoben, am Jahrestag der Machtübernahme der Taliban.

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Am vergangenen Wochenende haben zwei Beamte aus dem Bundesinnenministerium Medienberichten zufolge Gespräche mit Vertretern des Taliban-Regimes über weitere Abschiebungen geführt. Abschiebungen sind die Priorität der Bundesregierung, nicht die humanitäre Aufnahme gefährdeter Afghan*innen.

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Die Pässe liegen in Islamabad. Bei der Abschiebung wurde der Ausreisestempel auf die Hand gedrückt

Amira Salma fürchtet, dass Deutschland sie vergessen hat. Oder vergessen will. Die Pässe der Familie liegen bei der Botschaft in Islamabad. Bei der Abschiebung wurde ihr Ausreisestempel mangels Pass auf die Hand gedrückt. Bis heute hat sich die Botschaft nicht bei ihr gemeldet. Sie weiß nicht, wie es weitergeht. Mit den anderen Abgeschobenen ist sie in einem Hotel untergebracht, das die deutschen Behörden „Safe House“ nennen. Aber „safe“ ist es nicht. Die Taliban wissen Bescheid und stehen vor dem Hotel. Vertreter des gefürchteten „Tugendministeriums“ haben Abgeschobenen bereits befragt.

Im Wartezustand

Amira Salma sitzt den ganzen Tag mit ihren Kindern in einem Zimmer, sie dürfen das Hotel nicht verlassen. „Meine Kinder sind völlig verstört und depressiv, sie haben alle Hoffnung verloren“, sagt sie. Die Kinder haben jahrelang keine Schule besuchen können, während der langen Wartezeit in Islamabad hat die GIZ nicht für Unterricht gesorgt. In Afghanistan dürften die Mädchen ohnehin keine Schule besuchen.

Die Abgeschobenen haben Appelle an die Innenminister Alexander Dobrindt, Außenminister Johann Wadephul und die deutsche Botschafterin in Islamabad gerichtet. Antworten? Keine. Wenngleich die Bundesregierung nicht untätig ist, es ist schlimmer: Statt die gefährdeten Af­gha­n*in­nen in Sicherheit zu bringen, widerruft sie reihenweise die humanitären Aufnahmezusagen.

Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD beschlossen, freiwillige Aufnahmeprogramme zu beenden. Seit dem Amtsantritt der Regierung wird gebremst und widerrufen, wie es geht. Mehrere Af­gha­n*in­nen klagten erfolgreich auf die Erteilung von Visa, und einige wurden daraufhin tatsächlich nach Deutschland geflogen, zuletzt am vergangenen Dienstag.

Anderen hat das Innenministerium trotz erfolgreicher Klage die Aufnahmezusagen widerrufen, indem es behauptet, die Betroffenen seien in Afghanistan nicht gefährdet. Klar, ein Land, in das man abschieben möchte, darf so gefährlich nicht sein. Das erinnert fatal an die Regierung Merkel, die ab 2016 behauptete, Afghanistan sei sicher – um dorthin abzuschieben. Gleichzeitig gingen im ganzen Land fast täglich Bomben hoch. 2017 gab es einen verheerenden Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul. Daraufhin wurde das Personal dort reduziert und die konsularischen Dienste in die pakistanische Hauptstadt Islamabad verlegt – aus Sicherheitsgründen. Aber die Abschiebungen pausierten nur kurz, dann erklärte die Bundesregierung Afghanistan wieder für „sicher“, nur nicht für das eigene Personal.

Nun droht ein ähnliches Spiel, obwohl die Taliban in Afghanistan die Macht und eine Gewaltherrschaft etabliert haben, Menschenrechte missachtet und Frauen komplett aus dem öffentlichen Leben ausschließt. Auch gegen mehrere nach Kabul abgeschobene Familien wurden Widerrufsverfahren eingeleitet. Eine siebenköpfige Familie musste vor einigen Tagen das „Safe House“ verlassen. Es gibt keinen Kontakt mehr zu ihr. Amira Salma hat große Angst, dass ihr und ihren Kindern dasselbe Schicksal droht.

*Der Name der Protagonistin wurde aus Sicherheitsgründen geändert

  • informationsspiegel

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