Forscher über den Aufstieg der AfD: „Rechts überholen geht nicht gut“

taz: Herr Vorländer, Sie haben schon 2018 in einer Studie nahegelegt, dass Migration zwar ein Verstärker für den Aufstieg rechtspopulistischer oder extrem rechter Parteien sein kann, aber nicht die Ursache ist. Sehen Sie das heute immer noch so?

Hans Vorländer: Ja. Generell kann man sehen, dass das Thema Migration sehr stark von der AfD besetzt worden ist in den letzten zehn Jahren. Und es bleibt auch Katalysator: Wir haben auch danach noch eine Reihe von Studien zu Polarisierungsdynamiken gemacht. Und da taucht das Thema Migration immer an vorderster Stelle auf – nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern. Es ist das essenzielle Thema für das Geschäftsmodell von Parteien wie der AfD.

taz: Was waren die genauen Ergebnisse ihrer jüngsten Studie?

Vorländer: 80 Prozent unserer Befragten bescheinigen der Zuwanderung das höchste Spaltungspotential – ein viel größeres als Klimawandel, der Ukrainekrieg, Umverteilung oder Gleichheit. Die Wahrnehmung von Migration ist dabei aber sehr differenziert: Einerseits sagen die Befragten mit großer Mehrheit, die Zuwanderung von Ausländern soll beschränkt werden. Andererseits wird die Fachkräftezuwanderung mehrheitlich begrüßt. Offensichtlich richtet sich die Ablehnung im ersten Fall gegen die als irregulär wahrgenommene Migration. Mit ihr wird dann wohl assoziiert, dass hier Zuwanderung vornehmlich in die Sozialsysteme erfolgt und eine Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt entsteht, dass also Verteilungskonflikte angesichts knapper Ressourcen auf dem Rücken der aufnehmenden Gesellschaft ausgetragen werden.



Bild: Robert Michael/dpa


Im Interview: Hans Vorländer

Hans Vorländer, Jahrgang 1954, ist Politik- und Rechtswissenschaftler und leitete lange an der TU Dresden der Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte. Er ist Direktor des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) und seit 2023 Vorsitzender des Sachverständigenrats für Integration und Migration.

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taz: Tatsächlich trifft ja die Wohnungsnot marginalisierte Gruppen am meisten. Und dass Zuwanderung in Sozialsysteme stattfinden würde, stimmt ja auch nicht. Wie also lässt sich Aufstieg von Parteien wie der AfD erklären?

Vorländer: Ein Syndrom an Vorstellungen über Kontrollverlust und Ängsten, gemischt mit Ressentiments, dass man die Kontrolle über sein Leben, die Politik oder über nationale Entscheidungsprozesse verliert. Es gibt ökonomische Dimensionen, soziale Dimensionen und demografische Dimensionen. Das Vertrauen in politische Institutionen und die Demokratie nimmt ab, ebenso das Vertrauen in die demokratische Problemlösungsfähigkeit und in die Parteien. Dazu kommt dann auch noch eine kulturelle Dimension – was man so allgemein unter Kulturkämpfen verhandelt. Menschen haben das Gefühl, dass bestimmte Eliten, die sich links, grün oder urban definieren, andere, etwa ländlich geprägte Traditionalisten bevormunden. Parteien wie die AfD behaupten, dass man mittels einfacher Antworten zurückfindet zum vermeintlich vergangenen paradiesischen Zustand, wo alles sehr viel besser war. Sie ignorieren und verschweigen die Komplexität von Problemen.

taz: Die AfD befeuert den öffentlichen Diskurs zu Migration, er ist vielfach angstgetrieben und teils sogar komplett entkoppelt von Fakten. Inwieweit lassen sich demokratische Parteien und Medien vor den Karren der AfD spannen?

Vorländer: Der Mediendiskurs ist für die Wahrnehmung der Welt und der Probleme enorm wichtig, man kann ihn gar nicht unterschätzen. Wenn Menschen ein Deutungsmuster angeboten wird, fühlen sie sich erleichtert, weil sie glauben, die Problemlagen auf einmal verstehen zu können. Politik, aber vor allem auch Medien, haben an der Zuspitzung dieses Themas einen erheblichen Anteil – was die Darstellung von vermeintlich höherer Kriminalität, angeblichem Sozialmissbrauch oder Arbeitsverweigerung angeht. Hinzu kommt die Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit durch soziale Medien, wo es ja eigentlich nur noch um solche Dinge geht. Wir haben dadurch eine größer werdende selbsttragende Unterstützungsöffentlichkeit für Rechtspopulisten und rechtsextreme Gruppierungen. So entsteht Normalisierung im öffentlichen Diskurs.

taz: Wieso steckt so viel Verhetzungspotenzial in Migration?

Vorländer: Migration ist auch ein Brennglas für Probleme, die wir in Deutschland haben. Wir haben bereits angespannte Mietmärkte und vielerorts eine marode Infrastruktur. Wir brauchen mehr Kitaplätze, mehr bezahlbare Wohnungen und eine besondere Beschulung von Menschen, die von zu Hause aus kein Deutsch sprechen. Das sind alles wichtige Aufgaben, die über die besondere Integrationsproblematik hinaus Defizite anzeigen in den deutschen Regelsystemen. Da wirkt Migration wie ein Sündenbockmechanismus. Der Zuwanderung werden die Probleme zugeschrieben – was nicht heißen soll, dass in diesem Bereich nicht wirklich auch Herausforderungen für Politik und Gesellschaft bestehen. Aber Migration wird zur Chiffre für alles, was schiefläuft oder unerledigt ist. Die Suggestion wird erzeugt, dass es ohne Migration viel besser aussähe. Und ein solches Frame dient der politischen Mobilisierung.

taz: Der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland sagte über die Migration von 2015, dass sie ein „Geschenk“ für die AfD war. Hat er damit recht?

Vorländer: Diese Formulierung würde ich mir nicht zu eigen machen, aber die AfD hat von diesen Entwicklungen profitiert und ihr Politik- und Geschäftsmodell monothematisch darauf ausgerichtet und damit einen richtigen Boost bekommen. Die AfD hat eingesammelt, was an Unzufriedenheit, Ressentiment, Protest da war und von den anderen Parteien – in der Sprache der AfD von den „Altparteien“ – nicht repräsentiert wurde.

taz: Sie waren Vorsitzender des Sachverständigenrates für Integration und Migration. Was bedeutet Migration denn wirklich für Deutschland?

Vorländer: Tatsächlich sind zwei Drittel der Flüchtlinge, die wir 2015 aufgenommen haben, in Arbeit, viele davon allerdings im Niedriglohnsektor in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Für qualifizierte Zuwanderung haben wir zu viel bürokratische, administrative Hindernisse, die verhindern, dass Menschen schnell in den Arbeitsmarkt kommen. Bei der Migration könnte gerade die schnelle Integration in den Arbeitsmarkt klarmachen, dass die Zuwanderung etwas ist, von dem Deutschland profitiert. Der gesamte Gesundheits- und Pflegebereich würde doch zusammenbrechen, wenn dort keine Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten würden.

taz: Wie sollte man mit der AfD und ihrem Hauptmobilisierungsfeld umgehen?

Vorländer: Das Beste wäre, Probleme zu adressieren und zu lösen, etwa durch Investitionen in bessere Infrastruktur und Bildung. Der Ansatz der neuen Koalition war ja richtig – nur sieht man jetzt, dass mit den neuen Schulden offenbar hauptsächlich Löcher gestopft werden.

taz: Der vorrangige Umgang mit der AfD war bisher eher eine Abschottung gegenüber Migration.

Vorländer: Das Problem war, dass viele glaubten, man müsse einen harten Kurs in der Migrationsfrage fahren, um der AfD das Thema zu entwinden. Das aber ist gescheitert. Die AfD wächst weiter. Dafür sind dann die Befürworter dieses harten Kurses in die Polarisierungsfalle hineingelaufen, die die AfD so hervorragend zu bedienen weiß und von der vor allem sie profitiert. Das war auch die Lektion, die Merz lernen musste, als er zu Beginn des Wahljahres 2025 glaubte, einen Antrag der Union zur Migrationsfrage verabschieden zu müssen und dabei eine Mehrheit nur mit der AfD zustande kam. Da hat er sich vorführen lassen.

taz: Aber warum kommt das in einem gewissen Teil der Politik und der Medien nicht an?

Vorländer: Weil man mit Emotionen viel einfacher mobilisieren kann. Probleme emotional zu adressieren, nicht den Verstand, sondern den Bauch oder das Ressentiment anzusprechen, ist sehr viel einfacher, als die Komplexität von Problemen zu erklären. Wer aber bei Migration explizit zuspitzt, kann damit nicht gewinnen. Das gilt gerade für Mitte-rechts-Parteien, die glauben, sie müssten die AfD rechts überholen. Das geht nicht gut. Erfahrung aus anderen Ländern zeigen, dass dann konservative Parteien zerrieben werden zwischen einer demokratischen Mitte und den Rechtspopulisten und Rechtsexremen.

taz: Wie sollten konservative Parteien sich dann verhalten?

Vorländer: Sie sollten zeigen, dass sie die politischen Probleme besser lösen können, und sie müssen klarmachen, dass die Rechtsradikalen keine Lösungen anbieten, nur Stimmungen erzeugen und Ressentiments mobilisieren.

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