Olaf Scholz über Schwarz-Rot: „Immerhin hat sich meine Partei in diese Regierung hineingekämpft“

taz: Herr Scholz, wir haben Ihnen ein Foto mitgebracht von einem Termin in Ihrem Wahlkreis. Sie stehen da mit einer Herde Wasserbüffel auf einer Wiese. Wie geht es den Tieren?

Olaf Scholz: Gut. Sie haben eine schöne Weide und gute Landwirte, die sich um sie kümmern.

taz: Sie haben es zuletzt ähnlich gemacht wie die Wasserbüffel. Sie haben im letzten halben Jahr stoisch zugeschaut und geschwiegen. Warum wollen Sie sich jetzt wieder einmischen?

Scholz: Ein halbes Jahr ist um. Aber alle können sicher sein, dass ich mich stets so äußern werde, wie es angemessen ist, wenn man die Ehre hatte, dem eigenen Land als Kanzler zu dienen. Es geht um das Wohl des Landes. Und ich will auch der Regierung helfen, erfolgreich zu sein. Das fällt mir auch nicht sonderlich schwer. Ich wusste immer, dass ich, sofern es meine Gesundheit zulässt, länger ehemaliger Kanzler sein würde als Kanzler.

taz: Friedrich Merz lobt sich dafür, wie viel Geld seine Regierung in Verteidigung und Infrastruktur investiert. In der Opposition hatte er jede Änderung der Schuldenbremse blockiert.

Scholz: Es war gut, dass nach der Bundestagswahl noch der letzte Bundestag die Verfassung geändert hat, um ein Sondervermögen von 500 Milliarden für die Infrastruktur und eine Kreditaufnahme zugunsten der Bundeswehr zu ermöglichen. Das Gesetz habe ich gern selbst unterschrieben. Und es ist übrigens auch gut, dass die SPD in der Regierung dafür sorgen kann, dass die Fortschritte der letzten Jahre nicht rückabgewickelt werden.

„Was heißt ‚nur‘?“: Autogrammkarten im Vorzimmer von Olaf Scholz

Foto: Jens Gyarmaty

taz: Fortschrittliche, also progressive Politik steht derzeit enorm unter Druck. In unseren Augen ist das eine Politik, die das Gemeinwohl stärkt, nachhaltig ist und sozial gerecht. Stimmen Sie zu?

Scholz: Deshalb bin ich im Alter von 17 Jahren Sozialdemokrat geworden.

taz: Weshalb ist progressive Politik für Sozialstaat, Klimaschutz und Umverteilung, gerade so sehr in der Defensive?

Scholz: Wir sehen in allen Ländern des Nordens, in Nordamerika oder Europa oder Russland große Unsicherheit über die Zukunft. Die ökonomischen Verschiebungen, die mit dem Aufstieg des Globalen Südens und vor allem Asiens und Chinas einhergehen, sind in volkswirtschaftlichen Statistiken spürbar – aber auch im persönlichen Leben. Dazu kommen technologische Innovationen und die vielen Fragen, die sich mit den Herausforderungen des Klimawandels verbinden. Und es geht um Anerkennung und Respekt. Viele haben das Gefühl, ihre Arbeit und Leistung würden nicht anerkannt. Die Meritocracy Trap, die Behauptung alle Privilegien beruhten auf individueller Leistung, spaltet die USA, ist aber auch bei uns zu spüren. Deshalb ist es kein Zufall, dass dort und überall in Europa rechtspopulistische Strömungen und Parteien im Aufwind sind.

„Am liebsten in Rot!“: Olaf Scholz in seinem Bundestagsbüro

Foto: Jens Gyarmaty

taz: Sie machen das ganz große Bild auf, aber schauen wir doch mal nach Deutschland. Warum dringt die SPD nicht durch?

Scholz: Immerhin hat sich meine Partei in diese Regierung hineingekämpft und die letzte geführt.

taz: Und wo bitte macht die SPD gerade progressive Politik?

Scholz: Wir haben in Deutschland den Mindestlohn eingeführt, der auch in dieser Legislatur stark steigen wird. Da geht es genau um Respekt für Arbeit, die vorher zu schlecht bezahlt wurde. Und wir setzen uns für ein stabiles Rentenniveau ein. Die SPD ist die Partei, auf die man sich verlassen kann. Wer in einem Warenlager arbeitet, in einer Fabrik oder in einem Supermarkt muss im Rückblick auf das Berufsleben sagen können: Das war ein gelungenes Leben.

taz: Ist das nicht eigentlich konservative Politik, nämlich die Erhaltung des Status quo? Die Reformdebatten führen dagegen neoliberale und rechte Parteien.

Scholz: Wer nicht für eine Verschlechterung der Rente ist, ist kein moderner Politiker? Es ist doch progressiv sich für gesellschaftlichen Zusammenhalt einzusetzen! Ein weiteres Beispiel für progressive Politik ist das Staatsbürgerschaftsrecht, das wir in der letzten Legislaturperiode reformiert haben, so dass Einbürgerungen schon nach fünf Jahren rechtmäßigen Aufenthalts in Deutschland beantragt werden können und Mehrstaatigkeit generell möglich ist. Mehr als ein Viertel unserer Bevölkerung hat einen Zuwanderungshintergrund. Da ist Staatsbürgerschaft zentral für unsere Demokratie. Wir sollten jetzt dafür sorgen, dass sich Viele entschließen, die Staatsbürgerschaft unseres Landes anzustreben. Deutschland hätte im Übrigen größte ökonomische Schwierigkeiten, ohne all die Arbeitskräfte aus anderen Ländern, die in den vergangenen Jahrzehnten zu uns gekommen sind. Sie haben ganz nebenbei dazu beigetragen, dass wir heute geringere Rentenbeiträge zahlen als zu Zeiten Helmut Kohls. Und: Deutschland hat die Nutzung der Kernenergie beendet und die Nutzung der erneuerbaren Energien und klimafreundlicher Technologien beschleunigt; das ist progressive Politik. Und nun müssen wir als Progressive darüber diskutieren, wie wir zu – klimafreundlichem – Wachstum kommen.

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wochentaz

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taz: Sie haben kürzlich ein Sachbuch von Ezra Klein empfohlen. Darin wird eine Utopie beschrieben: Klimafreundlicher Wohlstand für alle im Jahr 2050. Glauben Sie wirklich dran?

Scholz: Wir werden 2050 in einer Welt mit 10 Milliarden Menschen leben. Viel mehr als heute werden dann einen Lebensstandard haben oder haben wollen, wie wir ihn hier in Deutschland bereits in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts hatten. Wenn wir Klima und Umwelt dann nicht irreversibel beeinträchtigen wollen, brauchen wir Technologien, die das möglich machen. Aber dafür müssen wir eher wie Ingenieurinnen und Ingenieure denken.

taz: Was bedeutet das?

Scholz: Wir müssen Genehmigungsverfahren beschleunigen. Dann können wir die technologischen Fähigkeiten unserer Wirtschaft besser nutzen. Wenn öffentliche Entscheidungen nur noch zwei Jahre brauchen statt zwanzig, hilft das dem Wachstum und dem Klimaschutz.

„Im Alter von 17 Jahren Sozialdemokrat geworden“: Olaf Scholz im kürzlich fertiggestellten Modulbau auf dem Luisenhof West

Foto: Jens Gyarmaty

taz: Diese riesige Transformation, in der wir uns befinden, schrumpft bei Ihnen zu einem technischen Problem. Der Staat muss nur effizienter werden und schneller abliefern.

Scholz: Was heißt „nur“? In anderen Ländern – vor allem in Asien – ist der Staat tatsächlich schneller und effizienter. Fortschritt muss erfahrbar sein.

taz: Zu ihrem Wahlkreis gehören nicht nur Wasserbüffel, sondern auch 300.000 Menschen. Und viele Familien können sich keine Wohnung in Potsdam mehr leisten. Was tun Sie als SPD-Abgeordneter dagegen?

Scholz: Wir haben ein soziales Mietrecht, das die Mietpreissteigerung begrenzt. Das wollen wir weiter stärken.

taz: Und Wohnraum wieder vergesellschaften?

Scholz: Eine Enteignung halte ich nicht für das entscheidende Thema. Es hilft natürlich sehr, wenn wie etwa in Hamburg, knapp die Hälfte der Mietwohnungen von einem kommunalen Wohnungsunternehmen oder Genossenschaften gehalten werden. Was die Preise aber immer in die Höhe treibt, ist fehlender preiswerter Wohnraum. Ohne zusätzlichen bezahlbaren Wohnraum geht es nicht, das war übrigens auch die Antwort im New Yorker Bürgermeisterwahlkampf.

taz: Nein, die Antwort des Wahlsiegers Zohran Mamdani ist ein Mietendeckel. Sind sie dafür, dass Kommunen rechtlich die Möglichkeit bekommen, einen solchen einzuführen?

Scholz: Doch, er will in dramatischen Größenordnungen preiswerte neue Wohnungen bauen. Und sein Mietendeckel bezieht sich auf kommunale und kommunal finanzierte Wohnungen. Es ist auch hierzulande richtig, dass unser geltendes Recht Mietpreissteigerungen begrenzt. Für Gebiete mit angespannten Wohnungsmärkten gelten verschärfte Regeln, und diese sollten weiter verbessert werden.

taz: Wie gefällt Ihnen der Slogan „Tax the rich“?

Scholz: Ich finde es richtig, dass diejenigen, die sehr hohe Einkommen oder Vermögen haben, einen größeren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten. Wahr ist aber auch: Relevante zusätzliche Einnahmen für staatliches Handeln ergeben sich dadurch leider nicht.

taz: Sie waren immer skeptisch, was eine Vermögenssteuer anbelangt.

Scholz: Wie kommen Sie darauf? Ich habe zwei Bundestagswahlkämpfe bestritten, in denen die Vermögenssteuer im Wahlprogramm der SPD stand, und zwar mit meiner ausdrücklichen Zustimmung.

taz: Schadet es nicht der Glaubwürdigkeit, wenn man sie die ganze Zeit fordert und nichts passiert?

Scholz: Es gab nach den Wahlen im Bundestag leider nie politische Mehrheiten dafür, die zugleich eine Regierung getragen hätten. Aber: Das macht die Forderung ja nicht falsch.

taz: Muss die SPD nicht trotzdem radikaler werden und sich anlegen mit den Reichen? Etwa mit dem Verband der Familienunternehmer. Zumal die ja jetzt auch in Richtung AfD geblinkt haben.

Scholz: Die AfD ist eine antipluralistische Partei, die sich als Sprecherin einer Gemeinschaft sieht, von der ein Teil unserer Gesellschaft ausgeschlossen sein soll. Sie ist auch deshalb vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft worden. Und natürlich wegen des Verdachts, dass sie, einmal an die Macht gelangt, den Verlust dieser Macht nicht hinnehmen würde. Deshalb ist es richtig, dass wir anderen Parteien sagen: Mit denen geht es nicht!

Im Interview: Olaf Scholz

Ist Sozialdemokrat und war von Dezember 2021 bis Mai 2025 der neunte Bundeskanzler. Zuvor Bundesfinanzminister, Erster Bürgermeister Hamburgs und von 2007 bis 2009 Bundesminister für Arbeit und Soziales.

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taz: Wir haben nach den Familienunternehmen gefragt, sie antworten mit der AfD. Aus Gründen?

Scholz: Um die Einladung der AfD ging es bei den Familienunternehmern. Der Verband ist zurückgerudert; zu Recht.

taz: Sie waren bislang nicht für ein Parteiverbot. Haben Sie Ihre Meinung geändert?

Scholz: Nochmal: Die AfD ist eine Partei, die die Pluralität unserer Gesellschaft nicht akzeptiert. Was ein mögliches Verbotsverfahren angeht, ist der Pfad klar: Die AfD wird gegen die neuerliche Einstufung durch den Verfassungsschutz klagen. Wenn sie damit genauso scheitert wie bei der bisherigen Einstufung, haben wir veränderte Handlungsmöglichkeiten, wie sie das Verfassungsgericht vorgeschlagen hat, etwa im Hinblick auf die Finanzierung der Parteien.

taz: Man sollte also kein Parteiverbot prüfen, aber einen Entzug der Finanzierung?

Scholz: Jetzt ist es erst einmal Sache der zuständigen Behörden, weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Ich habe als Abgeordneter, Bundesminister und Hamburger Senator für ein NPD-Verbotsverfahren gestimmt. Aus den nachfolgenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes haben wir gelernt, wie hoch die Anforderungen an ein Verbot sind.

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Buchtipps von Olaf Scholz

Folgende Bücher hat Olaf Scholz im Gespräch mit der taz erwähnt oder zitiert: Michel Dunlop Young: The Rise of the Meritocracy

Daniel Markovits: The Meritocracy Trap: How America’s Foundational Myth Feeds Inequality, Dismantles the Middle Class, and Devours the Elite

Michael J. Sandel: Vom Ende des Gemeinwohls: Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt

Edward L. Glaeser: Rethinking Federal Housing Policy: How to Make Housing Plentiful and Affordable

Ezra Klein/Derek Thompson: Der neue Wohlstand: Was wir für eine bessere Zukunft tun müssen

Branko Milanović: The Great Global Transformation: National Market Liberalism in a Multipolar World Josephine Quinn. Der Westen. Eine Erfindung der globalen Welt. 4000 Jahre Geschichte

Daniel Marwecki: Die Welt nach dem Westen: Über die Neuordnung der Macht im 21. Jahrhundert

Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios

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taz: Einige in Ihrer Partei sind da schon sehr klar. Die sagen, man muss ein Verbot prüfen. Sie sind da noch unentschlossen.

Scholz: Ich habe beschrieben, was jetzt die nächsten Schritte sind.

taz: In diesen Tagen könnte sich das Schicksal der Ukraine entscheiden. Der US-amerikanische Friedensplan für die Ukraine kommt dem nah, was Sie nie wollten: Einem Diktatfrieden. Hat Putin gewonnen?

Scholz: Nein. Es ist wichtig, sich klarzumachen, was das russische Ziel war. Das Ziel war die Eroberung der Ukraine, ganz oder in Teilen, und mindestens eine russlandfreundliche Regierung in Kiew. Aber Russland ist es über Jahre hinweg nicht gelungen, die Ukraine zu unterwerfen. Und die sogenannte Demilitarisierung der Ukraine wird Russland wohl auch nicht durchsetzen können.

taz: Trotzdem besteht die Gefahr, dass Trump und Putin jetzt einen Deal über die Köpfe der Europäer und der Ukraine hinweg machen.

Scholz: Ich bin zuversichtlich, dass wir eine starke, mit westlichen Waffen gut ausgerüstete Ukraine sehen werden, die ihre Souveränität verteidigen kann. Wir, die Freunde der Ukraine, müssen darüber nachdenken, wie wir es schaffen, dass die Ukraine eine große Armee auch in Friedenszeiten unterhalten kann. Denn offensichtlich kann die nötige Stärke ihrer Streitkräfte in Friedenszeiten nicht von der ukrainischen Volkswirtschaft alleine getragen werden.

taz: Wenn jetzt ein Waffenstillstand kommt, wird die Frage sein: Wäre mehr drin gewesen mit einem europäischen Friedensplan.

Scholz: Wir haben die Ukraine gemeinsam in die Lage versetzt, sich gegen die aktuell zweitgrößte – und atomar gerüstete – Militärmacht der Welt schon so viele Jahre zur Wehr zu setzen.

taz: Aber die Ukraine ist militärisch in der Defensive. Hätten die Europäer auf einen Waffenstillstand zu einem früheren Zeitpunkt drängen müssen, als die Lage auf dem Schlachtfeld besser war?

Scholz: Die Fragen nach einem Waffenstillstand kann nur die Ukraine selbst beantworten – in eigener Souveränität.

taz: Der Westen hat an Einfluss verloren, auch als Wertebündnis. Das liegt auch an Deutschlands Rolle im Gaza-Krieg. Sie haben Israels Krieg in Gaza mit zehntausenden Toten bis zum Ende Ihrer Amtszeit unterstützt, auch mit Waffenlieferungen. War das richtig?

Scholz: Wir haben Israel nicht allein gelassen und gleichzeitig immer klare Worte gefunden in Bezug auf die Kriegsführung in Gaza. Wir haben gesagt, dass es die Perspektive einer Zweistaatenlösung geben muss, weil Frieden dauerhaft nur möglich ist, wenn sich die Staaten und Völker selbst regieren.

taz: Teilen Sie die Einschätzung, dass die Haltung im Gaza-Krieg Deutschlands Ansehen im globalen Süden belastet hat?

Scholz: Es stimmt, dass viele Staaten in dieser Frage eine andere Haltung eingenommen haben als Deutschland – oder die USA. Aber es gibt ja auch noch viele andere Fragen, die unsere Beziehungen berühren. Wichtig ist, dass wir die wachsende Bedeutung dieser Länder anerkennen.

taz: Sie haben jetzt wieder mehr Zeit. Was genießen Sie am meisten: Lesen, Ausschlafen oder wieder selbst Autofahren?

Scholz: Auch wenn ich immer viel gelesen habe, ist es gut, dass ich nun noch mehr Zeit dafür habe. Selber Autofahren ist leider immer noch nicht drin. Und wenn, dann wäre es ein Elektroauto – am liebsten in Rot!

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