Auf dem alten Friedhof von Norderney: Nostalgie sells

Das Bierglas auf der Fassade der Gaststätte Klabautermann in der Fußgängerzone weist Durstigen den Weg. Und davon gibt es reichlich, denn längst haben Junggesellenabschiede die zweitgrößte ostfriesische Insel gekapert. Im Sommer ist Norderney fest in der Hand von Partygästen und Touristen. Der größte Arbeitgeber der Insel, die Staatsbad Norderney GmbH, ist stolz darauf, dass jährlich an die 590.000 Gäste kommen.

Dem gegenüber stehen 6.000 Einwohner, von denen man nicht so genau weiß, ob sie auch den Insel-Express auf Schienen, der „Feiern rund um die Uhr“ verspricht, gutheißen. Umgekehrt ist es nicht besonders wahrscheinlich, dass sich viele der Party People auf den Alten Inselfriedhof verirren.

Der erzählt nichts von nicht enden wollenden Partysommern, wenn sich Kauf- und Saufkraft der Gäste vereinen. Eher kann man dort etwas von dem schwierigen Leben vergangener Generationen erfahren. Es waren nicht nur die üblichen Seuchen, wie Pest oder Ruhr, die die Menschen dahinrafften, sondern vor allem die zahlreichen Tragödien auf See.

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44 Erntehelfer konnten nur noch tot geborgen werden. Ihre Holzkreuze sind längst verrottet

So wie die aus der Nacht vom 8. auf den 9. Juni 1722, als ein Schiff auf die Insel zutrieb, das fast vollständig mit Wasser vollgelaufen war. 44 Schnitter, also Erntehelfer, konnten nur noch tot geborgen werden. Ihre 44 Holzkreuze sind längst verrottet. Ewige Ruhe hätte es hier allerdings schon deshalb nicht gegeben, weil die Gräber immer wieder neu belegt wurden.

Insulaner mit Geld domestiziert

Doch die mit der Seefahrt verbundenen Tragödien mussten an den Insulanern abprallen, ihre Familien mussten schließlich ernährt werden, sodass die Männer oft mehrere Tätigkeiten gleichzeitig ausübten: Schiffer und Armenvorsteher, Steuermann und Krämer, Müller und Torfhändler, wählerisch durften sie nicht sein.

Der langsame Wandel zum Urlaubsort von heute begann mit dem 3. Oktober 1797, als die Badeanstalt „königlich-preußisch“ wurde, 1815 wurde das Fischer- und Seemannsdorf dem Königreich Hannover einverleibt. Sieben Jahre später veröffentlichte Friedrich Wilhelm von Halem seine Schrift über Norderney. Darin las man, dass die „650 Seelen“, die dort 1822 lebten, die Entwicklung hin zu etwas vermeintlich Besserem offenbar angenommen hatten: 135 Häuser, 264 größere oder kleinere Zimmer, 343 zu vermietende Betten hielten sie für die Fremden bereit. Und auch die Namen der Hausvorstände fehlten nicht, darunter 61 Schiffer und 23 Schifferwitwen.

Von Halem gab auch Ratschläge für den Umgang mit den Inselbewohnern. Man hatte also nicht nur die Quartiere vermessen, sondern gewissermaßen auch die Insulaner, um sie mit Geld zu domestizieren. War bei von Halem zwischen den Zeilen eine gewisse Herablassung zu lesen, wurde es bei Heinrich Heine 1826 offen spöttisch. „Die Eingeborenen sind meistens blutarm und leben vom Fischfang“, zudem seien sie in einem „Zustande der Gedanken- und Gefühlsgleichheit“. Das war nicht nett.

Gäste versus Insulaner, reich versus arm, Kultiviertheit versus Neandertal: Auf dem Friedhof war das vermeintliche Recht des Stärkeren längst zum Recht des Reicheren geworden.

Das Meer war unerbittlich

Noch zu Lebzeiten sicherten sich Begüterte mit teuren Stelen, Reliefsteinen oder gusseisernen Kreuzen ein dauerhaftes Erinnern. Oder mit gekreuzten Fackeln als Todessymbol, wie sie auf dem Grabstein des 1838 verstorbenen Jan Kasseboom zu sehen sind, der gleich vier Berufe hatte: Gärtner, Badewärter, Fischer und Schankwirt. Das Meer war unerbittlich, von seinen vier Söhnen blieben drei auf See.

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Ebenso wie Hans Jacob Six, der nur 15 Jahre alt wurde. Er war 1866 bei Bergungsarbeiten an einem vor Juist gesunkenen Dampfschiff ertrunken, seinen Grabstein ziert daher ein Schiff mit abgebrochenem Mast. Es war auch in diesem Jahr, als die Insel unter preußische Herrschaft gestellt wurde. Die rudimentären Beherbergungsbedingungen waren da schon vergessen, ab 1875 wurden auf dem alten Inselfriedhof keine Beerdigungen mehr vorgenommen.

„Schifferwitwen“ in großer Zahl gehören längst der Vergangenheit an, aber auch die Männer, die gezwungen waren, sich mit mehreren Jobs aufzureiben, um in diesen harten Zeiten zu überleben.

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Was sich hingegen zu wiederholen scheint, ist der elitäre Touch der touristischen Vergangenheit, da wird dann schon mal Currywurst mit Blattgold verkauft

Was sich hingegen zu wiederholen scheint, ist der elitäre Touch der touristischen Vergangenheit, da wird dann schon mal Currywurst mit Blattgold verkauft. Schaut man sich so manche Hotel- und Ferienwohnungspreise an, so bleiben kinderreiche Familien mit geringem Urlaubsbudget sowieso außen vor. Für sie gibt es kein Zimmer mit Aussicht.

Egal, die Hauptsache ist, dass es endlich wieder einen „König“ gibt, zumindest ein Inselhotel gleichen Namens, das mit seiner vermeintlich alten Fassade im neogotischen Stil die Vergangenheit zelebriert. Nostalgie sells. Das Negative daran wird gerne ausgeblendet.

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