Kerzenlicht und Besinnlichkeit: Das Lied von Kerze und Feuer

Vor einigen Jahren reiste ich im Winter mit zwei Freunden durch Südeuropa, um auf verschiedenen Höfen zu arbeiten. Den Großteil des Dezembers verbrachten wir auf einer Finca im andalusischen Hinterland. Sie war abgelegen, wir hatten keinen Strom. Eine Solaranlage erlaubte es zumindest für eine kurze Zeit am Tag, die Deckenlampen zu benutzen, etwa beim Kochen. Unser Wasser holten wir zu Fuß aus einem 20 Minuten entfernten Trinkbrunnen im Dorf.

An den dunklen Winterabenden saßen wir umringt von Kerzen in einem diffusen Dämmerlicht am Holzofen und schauten „Game of Thrones“. Tablet und Laptop gaben wir abwechselnd unserem Host mit, der im Dorf wohnte und sie am nächsten Tag vollgeladen zurückbrachte.

Es war ein ursprünglicher, romantischer Ort. Mir kommt es sehr passend vor, dass sich hier mein Blick auf Kerzen verändert hat. Während ich sie zuvor schlicht für überflüssige Dekoration hielt, entdeckte ich in der Einsamkeit der Finca, dass ihr Licht der gleichförmigen Totalität elektronischer Leuchtmittel eine aufrichtige Lebendigkeit entgegenstellt. Kerzen sind ein Spiel mit dem Feuer. Ein flimmernder Mittelfinger gegen einen Zeitgeist des Kontrollzwangs. Manche von ihnen erschaffen beim Abbrennen mit bildhauerischer Präzision fragile Skulpturen. Ich verlor mich im Schmelzen und Tropfen des Wachses. Es war beinahe eine Art Meditation.

Irgendwann fanden wir in einem der Räume der Finca Wachsreste, die wir in ausgewaschenen Gläsern und Blechdosen nach Farben sortiert einschmolzen und in andere Gläser gossen, bunte Schichten übereinander. So schauten wir „Game of Thrones“ bald im flackernden Schein unserer Kreationen.

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Besondere Kerzen muss man jagen

Die Zeit in Andalusien endete, doch die Wertschätzung für schöne Kerzen blieb. Als Anfang dieses Jahres meine Großmutter ihr übervolles Haus in der Lausitz verlassen musste, half ich beim Ausräumen. Einige ihrer Besitztümer landeten schließlich bei mir, so auch zwei bis oben hin volle Kisten mit Kerzen, zusammengesammelt aus dem ganzen Haus und den Scheunen. Viele stammten noch aus der DDR, originalverpackt, Retrodesigns, mit aufgedruckten Preisen: EVP 1,70 M.

Die meisten von ihnen schmelze ich noch immer ein, wie damals in Andalusien, und gieße sie nach Farben sortiert in neue Formen. Nicht mehr in Gläser, darin brennen sie nicht so schön, sondern in Bierdosen oder auch in Joghurtbecher und Klopapierrollen. Wenn das Wachs abgekühlt ist, lassen sie sich abziehen. Das Ergebnis ist jedes Mal eine kleine Überraschung.

Die schönsten Exemplare meiner Oma hingegen bleiben, wie sie sind, kommen nach und nach auf meine Emailletellerchen und Kerzenständer. Ihre Vielseitigkeit begeistert mich. Die kann man nicht erleben, wenn man Kerzen nur im Supermarkt kauft. Nach besonderen Kerzen muss man jagen.

Immer wieder finde ich auf Flohmärkten einzigartige Kunstwerke aus Wachs. Sie werden billig verjubelt, so, als hätten sie keinen Wert. Dabei erzählen sie eine Geschichte. Manche sind vom klebrigen Staub vieler Jahre bedeckt, weil sie still in irgendeinem Wohnzimmer vor sich hin warteten.

Es ist eine Schande, Kerzen nicht anzuzünden. Auch die schönsten von ihnen müssen irgendwann zu einem Tümpel aus rußpartikeldurchzogenem Wachs werden. Denn das Wertvolle an ihnen ist ihre Vergänglichkeit. Sie erinnern daran, dass gerade das Schöne endlich ist. Eine Ode an das Leben. Wie zur Bestätigung emittieren sie Feinstaub, können Lungenprobleme befördern. Letztlich sind Kerzen wie Kippen. Nur besser.

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