Türkische Opposition: Warum geht Erdogan jetzt gegen die CHP vor?

Berlin taz | Mit der Räumung der CHP-Zentrale und dem Einsetzen eines Zwangsverwalters durch die Regierung ist die größte Oppositionspartei in Istanbul faktisch entmachtet. Warum geht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan so gegen sie vor?

Was die CHP seit dem Frühjahr dieses Jahres erlebt, kennen kurdische Parteien schon lange. Seit 2016 wurden in den kurdisch geprägten Gebieten Dutzende demokratisch gewählte Bür­ger­meis­te­r:in­nen durch staatliche Treuhänder ersetzt.

Während Präsident Erdoğan die CHP schwächt und spaltet, präsentiert er sich selbst als Staatsmann des Friedens: Die Gespräche mit der prokurdischen DEM-Partei und die begleitende Kommission zur Entwaffnung der PKK – auf den ersten Blick ein historischer Schritt in Richtung Frieden – ist für Erdoğan ein wichtiges machtpolitisches Instrument.

Die kurdische Seite stellt dabei klare Forderungen: verfassungsrechtliche Anerkennung ihrer Identität, muttersprachlicher Unterricht, mehr Selbstverwaltung und ein inklusives Staatsbürgerschaftsmodell.

Erdoğan wiederum strebt eine neue Verfassung an, die ihm den Weg für eine weitere Kandidatur 2028 ebnen soll – dafür braucht er die Stimmen der DEM. Frieden und Repression greifen damit ineinander. Was nach Öffnung aussieht, dient zugleich der Spaltung der Opposition. Die CHP wird durch Zwang geschwächt, die DEM durch Zugeständnisse eingebunden. Um seine Macht zu sichern, ordnet der Präsident die politische Landschaft neu.

Schon Selahattin Demirtaş wurde inhaftiert

Bereits nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 wurde der damalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş inhaftiert. Auch er stellte eine ernsthafte Bedrohung für Erdoğan dar, weil er breite gesellschaftliche Unterstützung mobilisieren konnte.

Heute ist es der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, der als populärster Oppositionspolitiker gilt und im März verhaftet wurde. In beiden Fällen zielte die Repression auf charismatische Figuren, die die Machtverhältnisse zu verschieben drohten. Erdoğan schreitet gegen Kon­kur­ren­t:in­nen ein, sobald sie für ihn zur Gefahr werden – bisher meist kurdische, nun auch kemalistische Kräfte.

Die Rolle der DEM ist dabei ambivalent: Zwar verhandelt sie mit AKP und MHP über Frieden, doch sie macht sich weder mit der Regierung noch mit der oppositionellen CHP gemein. Die Unabhängigkeit verschafft ihr Einfluss, birgt aber auch die Gefahr – wenngleich ungewollt – Erdoğans Macht zu stützen.

Der Angriff auf die CHP ist kein isolierter Vorgang, sondern Teil einer umfassenden Strategie: Schrittweise Zermürbung der Opposition, juristische Instrumentalisierung für politische Zwecke – und das alles unter dem Deckmantel demokratischer Normalität.

Alles kein Zufall

Der 15. September wird dabei womöglich ein Scharniermoment: An diesem Tag verhandelt das Gericht in Ankara über die Annullierung der Parteitagsergebnisse vom November 2023 – also jener Kongress, bei dem Özgür Özel zum Parteichef gewählt wurde. Sollte das Verfahren erfolgreich sein, droht nicht bloß die Ablösung Özels, sondern auch eine Rückbesinnung auf die alte Führung um Kemal Kılıçdaroğlu. Damit würde die CHP nicht nur personell, sondern strukturell ausgehöhlt.

Diese Entwicklungen sind kein Zufall, sondern orchestriert. Die jüngsten Gerichtsurteile folgen dem altbekannten Muster: Entzug demokratischer Legitimation unter dem Deckmantel juristischer Formalitäten. „Gerichte entscheiden nun, die Demokratie buchstäblich vom Wahlkampf zur Diktatur zu kippen“, warnt Howard Eissenstat, Politikwissenschaftler und Non-Resident Scholar am Institute for Turkish Studies an der Universität Stockholm, in einem Social-Media-Beitrag.

Özel selbst spricht von einem „juristischen Staatsstreich“. Er vergleicht das türkische mit dem russischen Parteiensystem und beobachtet, dass Erdoğan sein Regierungsmonopol immer harscher durchsetzt.

Viele Bür­ge­r:in­nen sorgen sich deshalb, dass keine demokratische Kraft stark genug ist, Erdoğan aufzuhalten. Zugleich wächst der Widerstand – vor allem junge Menschen gehen erneut zu Hunderttausenden auf die Straße. Mit dem Angriff auf die CHP und dem bevorstehenden Gerichtstermin wird klar: Der Plan des Präsidenten könnte aufgehen. Am 15. September könnte die Türkei einen weiteren Schritt weg von der Demokratie und tiefer hinein in eine Autokratie machen.

  • informationsspiegel

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