100. Todestag von Rudolf Steiner: Nichts zu danken

Danke, Rudi!“ So heißt eine Aktion von ehemaligen Waldorfschülern zum 100. Todestag ihres Gründers Rudolf Steiner. Auch ich war über Jahrzehnte brav dankbar. Und finde es nun selbst verwunderlich, dass ich erst so spät angefangen habe, meine Schulzeit kritisch zu sehen. Aber damit bin ich nicht alleine.

Für seine Doku „De utvalda barnen“ (Die auserwählten Kinder) besuchte Regisseur Jasper Lake mit Mitte 40 seine ehemalige Waldorfschule. Er hatte sie in guter Erinnerung, stieß aber im Laufe seiner Recherchen auf immer verstörendere Untiefen von Gewalt und ideologisch geprägtem Handeln.

Das veränderte die Beziehung zu seiner alten Lehrerin und die Perspektive auf seine Schulzeit: „Es war eine schmerzhafte Reise zurück in meine Vergangenheit. Mein romantisiertes Bild von der Schule zerbrach. Ich versuche Worte zu finden, die zusammenfassen, was ich durchgemacht habe.“ Die dreiteilige, schwedische Dokumentation aus dem Jahr 2021 hat mich von allen waldorfkritischen Veröffentlichungen bisher am tiefsten berührt.

Die undankbare Nestbeschmutzerin

„Danke, Rudi!“ – Dankbarkeit, zu den etwa 1 Prozent der deutschen Schulkinder zu gehören, die auserwählt wurden, einen Waldorfschulplatz zu bekommen. Dankbarkeit, Eltern zu haben, die einem das ermöglichen. Dankbarkeit, unter so „engagierten Lehrkräften“ gelernt zu haben. Dankbarkeit für schöne Räume, Handwerk und „keine Noten“. Dankbarkeit, nicht auf eine „gefühlskalte Staatsschule“ zu müssen.

Und immer wenn ich grundsätzliche Kritik übte, fühlte ich mich als undankbare Nestbeschmutzerin. Waldorfkritik von Betroffenen verletzt immer auch Menschen, die das Beste für einen wollten und teilweise viel dafür geopfert haben. Zum Glück ermöglichen Pseudonyme es, Erfahrungen erzählen zu können und dennoch die Privatsphäre all jener Personen zu schützen, mit denen man aufgewachsen ist. Es geht schließlich meist um Rudis Pädagogik als solche und nicht um einzelne Personen oder Einrichtungen.

Mit der Zeit wurde mein „Danke, Rudi!“ zu einem #fckstnr. Die kritische Aufarbeitung ehemaliger Waldorfkinder in den sozialen Medien habe ich als große Erleichterung empfunden: spüren, dass man eben kein „Einzelfall“ ist, sondern viele Probleme strukturell bedingt sind; unter #exwaldi öffentlich wütend und anklagend sein dürfen – statt dankbar. Meine Dankbarkeit stand meiner individuellen Entwicklung lange im Weg. Zumal „Waldorf“ für mich identitätsstiftend war und die Kritik daher auch an meinem Selbstbild kratze.

Das Schweigen brechen

„Schweigen wir über alles das, was wir handhaben in der Schule. Halten wir uns an eine Art Schulgeheimnis“, sagte Rudi 1919 in einer Lehrerkonferenz. Wenn aber über Jahrzehnte geschwiegen wurde, ist es umso schwerer, das Schweigen zu brechen. Das gilt nicht nur für Waldorfschulen.

Meg Applegate schreibt in ihrem Buch „Becoming Unsilenced“, sie habe noch 18 Jahre nach Verlassen eines therapeutischen Internats erzählt, dass diese Schule das Beste gewesen sei, was ihr habe passieren können. Sie habe die Einrichtung gelobpreist und behauptet, dass sie ihr Leben gerettet habe. Sie schreibt auch, dass viele Betroffene in­sti­tu­tio­nel­len Missbrauchs erst mit über 40 Jahren zu verstehen anfingen, was eigentlich mit ihnen passiert sei, und erst dann seien sie auch in der Lage, es in Worte zu fassen.

Zumindest was den Regisseur Lake und mich betrifft, hat sie recht.

  • informationsspiegel

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