Der Drang, ein gutes Buch auch dann als Serie zu verfilmen, wenn Handlungsentwicklung und Erzählgeschwindigkeit von einem straff erzählten 113-Minuten-Film eindeutig mehr profitieren würden, ist ein Phänomen unserer Gegenwart.
Das Gegenteil allerdings ist nun geschehen: Ein Buch, das wegen seiner epischen Länge und Detailliertheit – und nicht zuletzt von seinem Verfasser selbst – als unverfilmbar angesehen wurde, hat jetzt dank der Budgetmöglichkeiten und Erzählkapazitäten unserer Serienzeit doch seinen Weg auf die Bildschirme gefunden. Die erste Hälfte der Netflix-Verfilmung von „Hundert Jahre Einsamkeit“ des Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez ist in acht Folgen erschienen, die zweite Hälfte folgt im nächsten Jahr.
Der Roman ist beispiellos in der internationalen Literaturgeschichtsschreibung: 1967 veröffentlicht, wurde er weltweit über 50 Millionen Mal verkauft und zählt damit zu den erfolgreichsten und bekanntesten Werken der spanischsprachigen Literatur.
Er erzählt die Geschichte der Familie Buendía im fiktiven Dorf Macondo über sieben Generationen und 100 Jahre hinweg: angefangen mit der Gründung Macondos als Sehnsuchtsort einer jungen und hoffnungsvollen Generation, die Wachstum und Wohlstandsentwicklung anstrebt, und endend mit dem Verfall und der schlussendlichen Zerstörung des Ortes.
Übernatürlichkeit und Rationalität
Der Roman gilt als Meisterwerk des Magischen Realismus: Hier reicht das Fantastische dem Tatsächlichen wie selbstverständlich die Hand, ohne dabei die Figuren der erzählten Welt zu überraschen oder zu ängstigen – eine hybride Welt zwischen Übernatürlichkeit und Rationalität entsteht mit einer erzählerischen und handlungslogischen Beiläufigkeit.
Im Einfangen dieses leichthändigen Verwebens von Zauber und Fakt lag neben der Fülle der Figuren und Handlungsstränge die wohl größte Herausforderung einer Verfilmung. Die von den aus Südamerika stammenden Regisseuren Laura Mora und Alex García López in Kolumbien und in spanischer Sprache realisierte Produktion meistert diese Einflechtung von Übernatürlichkeit hervorragend: Figuren altern nicht, Gegenstände fallen ohne äußere Einwirkung auf den Boden, ein Klavier spielt von allein.
Oft werden diese fantastischen Einschübe so en passant in Szenen eingebettet, dass sie erst im Nachhinein auffallen. Die Serie stellt die magischen Elemente der Geschichte nicht überdeutlich in den Vordergrund, stattdessen muss man mehrmals hinsehen, um alles Zauberhafte zu entdecken.
„Hundert Jahre Einsamkeit“,
acht Folgen, jetzt auf Netflix
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Romangetreu, detailliert, immersiv
Die Beiläufigkeit der Magie wird in dieser Serie gerade durch das visuelle Erzählen verstärkt: Der fliegende Teppich muss nicht erwähnt werden, er saust im Hintergrund einer Szene durchs Bild – Magie im Augenwinkel also, die mit ihrer Selbstverständlichkeit dem Magischen Realismus filmisch nicht besser hätte gerecht werden können.
Eine Erzählstimme bettet Márquez’ Wortwucht ins Geschehen ein und leitet durch zentrale Motive der Geschichte, wie das Schicksal, das erst durch den Glauben an selbiges verhängnisvolle Macht gewinnt, und den Einfluss vorheriger Familiengenerationen auf das eigene Leben.
Die für das Buch charakteristischen Vor- und Rückgriffe werden durch eine mehr lineare Erzählweise aufgefangen. Somit gelingt der Serie das, was Marquéz anzweifelte: eine romangetreue, detaillierte, immersive Verfilmung, die den Besonderheiten der Erzählung auf filmische Weise gerecht wird.