Hungersnot in Gaza: So schlimm war es noch nie

Gaza-Stadt/Berlin taz | Als Fadi Hassouna am 20. Februar 2025 in Deir al-Balah in Zentralgaza zur Welt kommt, lässt Israel noch die Lieferung von Hilfsgütern in den Gazastreifen zu. Milchpulver habe sie damals von einer Hilfsorganisation bekommen, erzählt seine Mutter Asma Hassouna. Zehn Tage später verhängt Israel einen Stopp für die Lieferung von Hilfs- sowie kommerziellen Gütern.

Seitdem, sagt sie, finde sie kaum mehr das dringend nötige Milchpulver für Fadi. „Jeden Tag geht es meinem Baby schlechter“, sagt die 34-Jährige. Nicht nur an Babynahrung mangelt es: Essen für die anderen Mitglieder der fünfköpfigen Familie zu finden, werde immer schwieriger. Deswegen kann Hassouna ihren kleinen Sohn auch nicht stillen. „Es ist sehr hart“, sagt sie.

Wie Asma Hassouna und ihrer Familie geht es fast allen Menschen im Gazastreifen: Laut der IPC-Skala, die Ernährungssicherheit misst, leidet die gesamte Bevölkerung Gazas unter akuter Ernährungsunsicherheit. Rund 470.000 Be­woh­ne­r*in­nen fallen in die höchstmögliche Klassifizierung und gelten damit als von einer Hungersnot betroffen. Nach palästinensischen Angaben sind Dutzende jüngst an deren Folgen verstorben. Säuglinge und Kinder sind besonders gefährdet: Sie brauchen spezielle Nahrung wie Babymilchpulver. Zudem kann sie Mangelernährung langfristig in ihrer Entwicklung schädigen.

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Jeden Tag geht es meinem Baby schlechter

Asma Hassouna, Mutter von Fadi

Es ist anzunehmen, dass die Fälle steigen

Hilfsorganisationen schauen mit besonderer Sorge auf die Kleinsten. Das beschreibt eine Mitarbeiterin von Juzoor – einer Organisation, die im Gazastreifen mehrere Zentren für Ernährung betreibt und auch mit dem katholischen Hilfswerk Caritas zusammenarbeitet. In den Zentren überprüft Juzoor seit Januar 2024 den Ernährungszustand von Kindern unter fünf Jahren. Die Organisation misst den Umfang des Oberarms – ein standardisiertes Vorgehen zur Dokumentation von Unterernährung bei Kindern. Bluttests wären akkurater, denn auch wer wenig Gewicht verloren hat, kann mangelernährt sein. Doch das sei derzeit nicht möglich, sagt eine Mitarbeiterin.

Von insgesamt 129.000 Kleinkindern habe Juzoor Daten aufgenommen, mindestens 1 Prozent von ihnen sei schwer, 6 Prozent moderat unterernährt. Es ist anzunehmen, dass die Fälle derzeit ansteigen. Bislang habe man die betroffenen Familien mit hochkalorischer Fertignahrung unterstützt. Mittlerweile, sagt eine Mitarbeiterin der Organisation, seien die Vorräte erschöpft. „Wir haben nichts, was wir ihnen ­geben könnten.“

Zwar beendete Israel seine komplette Blockade Mitte Mai und ließ seitdem wieder einige Lastwägen mit humanitärer Hilfe passieren. Doch Daten, die die zuständige israelische Behörde Cogat selbst veröffentlicht, zeigen: Es ist viel zu wenig. Laut Cogat wurden im Februar noch über 295.000 Tonnen Güter nach Gaza geliefert, davon 216.000 Tonnen Nahrungsmittel.

Im März und April fiel das auf null ab. Im Mai durften schließlich wieder etwa 20.000 Tonnen passieren, im Juni etwa 38.000, im Juli bislang unter 24.000 Tonnen. Etwa zwei Millionen Menschen leben im Gazastreifen. Laut Berechnung des Welternährungsprogramms wären mindestens 60.000 Tonnen im Monat nötig, um der Gesamtbevölkerung gerecht zu werden.

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Die mangelernährten Mütter können oft nicht stillen

Schon vor Beginn der Blockade ab März gab es immer wieder Berichte über Hunger im Gazastreifen. Auch damals wurde kritisiert, dass Israel zu wenig Güter nach Gaza hineinlasse. Alternative Importrouten gibt es nicht, weil Israel alle Grenzübergänge kontrolliert. Die von der Cogat veröffentlichten und bis Februar 2024 zurückreichenden Daten bestätigen die Wahrnehmung der Menschen in Gaza: So schlimm wie jetzt war es noch nie.

Viele Güter, berichten mehrere Kontakte aus dem Gazastreifen der taz, sind gar nicht mehr verfügbar: etwa Milchprodukte, Fleisch und Eier. Andere, wie Mehl, Reis oder Hülsenfrüchte, sind sehr teuer. Ein Kilo Mehl, so ein Kontakt aus Gaza-Stadt, habe zuletzt umgerechnet etwa 24 Euro gekostet. Ein Kilo lokal produzierter Feigen kostet bis zu 40 Euro, Kartoffeln um die 20 Euro.

Genauso verhält es sich mit dem Milchpulver: Bis zu 85 Euro könne eine Dose kosten, wenn man sie denn finde. „Jedes Mal, wenn ich ein Produkt sehe, das für Kinder unter sechs Monaten geeignet ist, versuche ich es zu kaufen“, sagt Asma Hassouna. Mit ihren drei Kindern und ihrem Mann lebe sie in einem Zelt in Zentralgaza, zwischen Abwasser und Müll, erzählt sie.

Ihr Ehemann habe seinen Job verloren, das Geld für das Milchpulver versuche sie irgendwie zusammenzubekommen. Sie kauft es bei Straßenhändlern, in Apotheken und Märkten. Oft gehe sie leer aus: „Ich füttere ihm dann das, was wir selbst zu essen finden: Es gibt einfach keine andere Option.“

„Eigentlich raten wir den Müttern zu stillen“, sagt der Kinderarzt Alaa Abu Qamar. „Doch viele sind mangelernährt“ – und der Körper nicht fähig, Milch in ausreichender Menge zu produzieren. Bis zum sechsten Lebensmonat, sagt Alan Abu Qamar, empfehle er normalerweise, Säuglinge mit Mutter- oder Babymilch zu ernähren. Babymilchpulver sei die einzige Alternative, die die Kleinsten ausreichend mit Vitaminen und Mineralstoffen versorge. Doch die Umstände ließen den Müttern oft keine Wahl. „Manchmal müssen wir den Kindern sogar Glukoselösung geben, um schwere Unterzuckerung zu vermeiden“, sagt er.

Die Lastwagen stünden bereit

Bis März hätten Hilfsorganisationen regelmäßig Babymilchpulver an pädiatrische Kliniken gespendet, berichtet der Kinderarzt. Das sei vorbei. Vor einigen Tagen habe er unter großen Schwierigkeiten vier Packungen auftreiben können. „Es ist, als habe man einen Schatz gefunden“, sagt Abu Qamar. Manche Eltern fütterten ihren Kindern in Ermangelung anderer Optio­nen Nahrungsergänzungsmittel, die einige Hilfsorganisationen noch immer im Gazastreifen verteilten, erzählt er, auch wenn diese für Babys unter sechs Monaten ungeeignet seien.

Für ältere Kinder und Erwachsene schon eher. Juzoor etwa verteilt spezielle Kekse, die sehr viele Kalorien haben und als Notfallnahrung in Krisengebieten genutzt werden. Doch auch diese gingen mittlerweile zur Neige, sagt eine Mitarbeiterin.

Partnerorganisationen von Juzoor hätten Lastwagen hinter der Grenze bereitstehen, berichtet sie. Sie warteten nur auf die Genehmigung, um nach Gaza einfahren zu können. Nicht nur Milchpulver hätten sie geladen, sondern auch dringend benötigte Nahrungsmittel für ältere Kinder, Erwachsene und Senioren. „Wir hoffen, dass die Ladung bis dahin nicht abläuft und verdirbt“, sagt sie.

Asma Hassouna vergleicht Fadi mit seinen beiden Geschwistern, als diese im selben Alter waren: Die Folgen der Mangelernährung seien offensichtlich, er sei abgemagert. „Ich hoffe, der Krieg endet bald“, sagt sie. „Und dass es dann endlich wieder Essen gibt – für Kinder wie Erwachsene.“

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