Debatte über Kopfnoten an Schulen: Neue Thüringer Härte

Welche Folgen der Leistungsdruck an Schulen hat, zeigte kürzlich der „Präventionsradar“ der Krankenkasse DAK: Demnach fühlen sich fast zwei Drittel der Schulkinder erschöpft, ein Drittel zeigt depressive Symptome. Trotz solcher Zahlen hat Thüringen im Sommer eine umstrittene Entscheidung getroffen: Mit dem neuen Schuljahr sollen Lehrkräfte wieder ab Klasse drei Mitarbeits- und Verhaltensnoten verteilen. Kritiker sehen darin vor allem einen Angriff auf die 82 Gemeinschaftsschulen, die von der 2024 abgewählten rot-rot-grünen Koalition zehn Jahre lang gefördert wurden.

Landesschülersprecher Erik Sczygiol sprach sogar von einem Angriff auf den „Schulfrieden“. Dieser bedeutete bislang, „dass man reformpädagogische und Gemeinschaftsschulen in Ruhe lässt“, so Sczygiol. Auch die Landeselternvertretung Thüringen hatte die Pläne früh kritisiert. Immerhin hat die Landesregierung nach dem Protest punktuelle Ausnahmen von den neuen Regeln zugelassen.

Ursprünglich sah Bildungsminister Christian Tischner (CDU) für alle Schularten die Wiedereinführung von Kopfnoten bereits ab der ersten Klasse vor. Bislang wurden solche Noten für Mitarbeit und Verhalten nur in den Klassenstufen fünf bis acht vergeben. Auch Gemeinschaftsschulen sollten generell zur Notenvergabe ab der sechsten Klasse verpflichtet werden, was dort bisher erst ab der Stufe acht galt. „Sitzenbleiben“, also eine Klassenstufenwiederholung bei nicht ausreichenden Leistungen, soll auch schon ab der sechsten Klasse angeordnet werden können.

Lehrerverband und Philologenverband stehen hinter den Verschärfungen. Claudia Koch von der Landeselternvertretung erkennt in den öffentlichen Stellungnahmen eine unter Lehrern weit verbreitete repressive Grundeinstellung. Sie glaubt, dass Lehrkräfte in den Noten und dem Durchfallenlassen vor allem eine willkommene Handhabe gegen unbequeme Schüler und notorische Störer sehen.

Applaus von Lehrerverbänden

Auch die Thüringer Handwerkskammer verspricht sich von mehr Zwang eine bessere Vorbereitung auf das Berufsleben. Präsident Stefan Lobenstein glaubt sogar, dass Kopfnoten soziale Kompetenz und Verantwortungsbewusstsein fördern. Eine MDR-Fernsehdiskussion im April offenbarte, dass auch erhebliche Teile der Elternschaft einen strafferen Durchgriff der Schule befürworten.

Landesschülersprecher Erik Sczygiol hingegen ist sich sicher, dass die Maßnahmen einen Schritt zurück in Richtung antiquierte „Paukschule“ bedeuten. „Also klassisches Bulimielernen befördern.“ Individuelle Neigungen und Förderungen blieben so auf der Strecke, sagte Sczygiol. „Wir wollen ja lernen! Aber Druck macht nicht so viel Spaß wie intrinsische Motivation.“ Sczygiol plädiert für ein an der Schule bewusst praktiziertes Gegenideal zu omnipräsenten kapitalistischen Konkurrenzmustern. „Schüler leiden unter den dauerhaften Vergleichen. Jeder Vierte kämpft laut Studien mit mentalen Problemen!“ Wettbewerb an sich sei förderlich, „aber nicht in dem Ausmaß“.

Auch für die Landeselternvertretung konstatiert Sprecherin Claudia Koch einen Rückwärtstrend zur Old School, „um mit dem Zurückholen Problemen der aktuellen Zeit zu begegnen“. Also zurück zu mehr Zucht und Ordnung durch engere Normen, die von allen erfüllt werden müssen. Angesichts komplexer Problemlagen in der heranwachsenden Generation sehnten sich Eltern wie Lehrer nach einfachen Lösungen. „Wenn der sich nicht benimmt, schmeißt ihn doch einfach raus“ sei das Motto.

Was Koch verwundert, ist, wie sehr auch viele Eltern diesen Kurs für den richtigen halten. Oft hört sie: „Mir hat etwas Härte auch nicht geschadet.“ Aber wer kann das einschätzen? „Man sollte nicht aus eigenen früheren Schulerfahrungen auf das schließen, was heute passieren muss“, fordert Koch.

Die Sprecherin ist aber dankbar, dass der harte Schlag gegen die der CDU suspekten Gemeinschaftsschulen vorerst ausblieb. Der Protest von Eltern und Schüler blieb bei dem seit dem vorigen Herbst amtierende Bildungsminister Tischner nicht unerhört. Über seine Stellung in der Thüringer CDU wird viel spekuliert. Aber immerhin kann er mit dem Pfund wuchern, seinen Wahlkreis in Greiz gegen den dorthin aus dem katholisch-renitenten Eichsfeld geflohenen AfD-Spitzenkandidaten Björn Höcke bei der Landtagswahl 2024 gewonnen zu haben. Jedenfalls ließ Tischner wichtige Ausnahmen für Gemeinschaftsschulen und solche mit reformpädagogischen Konzepten zu.

Kopfnoten kosten Millionen

Während an Regelschulen Mitarbeit und Verhalten ab Klasse drei benotet werden, dürfen diese Schulen weiterhin bei einer verbalen Einschätzung bleiben. Sie müssen auch Versetzungsentscheidungen erst ab Klasse acht treffen. Für etwa 90 Prozent der Schulen bleiben aber harte Kriterien wie die Möglichkeit des Sitzenbleibens ab Klasse sechs. „Aus pädagogischer Sicht bietet die frühere Versetzungsentscheidung die Chance, Leistungsrückstände frühzeitig zu erkennen und dem Kind in seiner Entwicklung bestmöglich gerecht zu werden“, begründet dies Minister Tischner.

Vorerst ist Ruhe in die Debatte eingekehrt. Die Landeselternvertretung ist zufrieden, dass reformpädagogische Schulen ihre Konzepte weiterführen können. Man werde aber sehr genau hinschauen, wie die praktischen Umsetzungsmechanismen, die Wertungsrichtlinien an die Lehrer ausfallen, und ob sie zu Diskriminierungen führen, kündigt Claudia Koch an. Sie vermutet, dass Lehrer und Lehrerinnen auch weiterhin ihre subjektiven Spielräume nutzen und sehr persönlich benoten werden.

Wie ein Kommentar zur Thüringer Kehrtwende mutet eine Studie des ifo-Wirtschaftsforschungsinstituts vom Juli dieses Jahres an. Demnach haben Kopfnoten nicht nur keinen Einfluss auf den Bildungserfolg und den Berufseinstieg. Der Zeitaufwand bei Pädagogen für deren Ermittlung kostet laut ifo außerdem der Bundesrepublik hochgerechnet 206 Millionen Euro pro Jahr.

  • informationsspiegel

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