Erwiderung auf FAZ-Autor Egon Flaig: Auch im Krieg braucht es Lebensfreude

V om friedlichen Deutschland aus der Ukraine einen Mangel an Opferbereitschaft und Heroismus zu unterstellen, wie Egon Flaig es vergangenen Dienstag in der FAZ tat, ist zunächst einmal ein unverschämter Gestus. Er hat keine elf Jahre Krieg und drei Jahre Vollinvasion erlebt, keine Angehörigen im Kampf verloren. Flaigs Gastbeitrag vermittelt nicht den Eindruck, er sei ins Land gereist oder habe je mit Ukrai­ne­r:in­nen ein Wort gewechselt.

„Die sinkende Kampfwilligkeit im Reservoir der Wehrpflichtigen scheint zu belegen, dass auch die Ukraine eine postheroische Gesellschaft geworden ist“, schreibt der emeritierte Geschichtsprofessor, sichtlich von der Ukraine enttäuscht. Von Deutschland ist er es schon lange. Seine Beobachtungen aus der Ferne und auch seine Schlüsse aus ihnen decken sich nicht mit meinen Eindrücken vor Ort.

Flaig behauptet, in den ukrainischen Städten laufe „anscheinend die Vergnügungsindustrie weiter wie im Frieden“. In den Diskotheken und in den Fitnessstudios tummelten sich junge Männer im wehrfähigen Alter. Der ukrainische Staat scheine es darauf anzulegen, schreibt Flaig, „die Zivilgesellschaft im Zustand des ‚normalen Lebens‘ zu halten“. Eine solche Weiterführung der Normalität sei „abnormal, weil widersinnig, wenn die Unterwerfung droht“.

Falsche These

Diese These ist falsch. Flaig müsste wissen, dass es täglich Luftangriffe gibt, dass täglich der Alarm ertönt und ständig verletzte und tote Zi­vi­lis­t:in­nen zu beklagen sind. Dass in fast allen Regionen des Landes nächtliche Ausgangssperren herrschen. Wie im Frieden ist es dort jetzt freilich nicht.

Die „Heimatfront“, wie Flaig sie nennt, die „Militarisierung des alltäglichen Lebens“ ist entgegen seinen Behauptungen auch in der ukrainischen Hauptstadt deutlich spürbar. In Cafés werden per QR-Code Spenden für die ukrainische Armee gesammelt, in Buchläden dominiert Literatur zum Krieg. Auf den Straßen, in der Metro sind Plakate und Sticker angebracht, die zum Beitritt in die Streitkräfte auffordern, und solche, die an die Gefangenen und Gefallenen erinnern. Gleichzeitig gilt: Das Leben geht weiter, und die Menschen genießen es in vollen Zügen.

Am vergangenen Freitag sagte der Menschenrechtler und Journalist Maksym Butkevych, der Kyjiw vor den russischen Truppen verteidigte und beinahe zweieinhalb Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft verbrachte, bei einer Diskussionsveranstaltung in Berlin, nach seiner Freilassung im vergangenen Oktober sei er positiv überrascht gewesen von seinem Land.

Er habe Angst davor gehabt, dass es sich während seiner Abwesenheit in ein Kriegslager verwandelt habe. Aber das Gegenteil sei der Fall gewesen: Buchläden, die zugleich Cafés sind, würden eröffnen, Theatervorstellungen seien ausverkauft. Denn die Menschen möchten das Leben im Hier und Jetzt genießen, so Butkevych – im Bewusstsein, dass es jederzeit enden könne.

Zugleich beginne und beende man den Tag mit einer kleinen Spende an die ukrainische Armee. Keine Institution genieße ein so großes Vertrauen wie sie, da sie ein Abbild der ukrainischen Gesellschaft sei, mit früheren Arbeitern, Lehrern oder auch Menschenrechtlern wie ihm in ihren Reihen. Er sei stolz auf diese ­Resilienz seiner Mitbürger – darauf, dass die Werte Liebe und Freiheit hochgehalten werden, die er jetzt nach seiner Gefangenschaft mehr denn je zu schätzen weiß.

Eine solche Lebensfreude demonstriert auch die aktuell im „Ukrainischen Haus“ in Kyjiw laufende Ausstellung „Urlaub auf dem Balkon“. Die Künstlerin Dasha Podaltseva und der Komponist Alexey Shmurak haben einen Strand nachgebaut, mit aufblasbaren Delfinen, Plastikliegen, Sand und Sonnenschirmen. Aus den Lautsprechern hallen von Shmurak komponierte Beats. Die ironische, audiovisuelle Installation soll den Kyjiwer Bür­ge­r:in­nen ein bisschen Entspannung trotz Krieg ermöglichen.

Flaigs Beitrag irritiert vor allem mit seiner unterschwelligen Forderung, den Ukrai­ne­r:in­nen aus der Ferne eine solche Freude verbieten zu wollen, weil er sie mit Indifferenz verwechselt. Dabei ist gerade sie ein Zeichen des Trotzes, dessen, dass man der russischen Aggression, die einem das Leben zur Hölle machen will, die Lebensfreude entgegenstellt. Ukrai­ne­r:in­nen sind Menschen, keine Kampfmaschinen.

In einem Punkt hat Flaig recht: Einige ukrainische Soldaten sind demotiviert und enttäuscht. Im Pinchuk Art Centre in Kyjiw besuchte ich am 28. Februar die Eröffnung der Ausstellung zum Pinchuk Art Prize für junge Künstler:innen. Einer von ihnen, Yevhen Korshunov, ist jetzt Soldat in der Region Donezk. Er stellt Bleistiftzeichnungen seiner Kameraden aus.

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Einige Soldaten sind demotiviert und enttäuscht. Anzuerkennen bleibt: Ukrai­ne­r:in­nen sind Menschen, keine Kampfmaschinen

„Die Soldaten wünschen sich Rotationen, dass sie öfter nach Hause gelassen werden“, sagt er. Er spricht sich für eine größere Mobilisierung aus. Die Armee dürfe sich so viele Menschen nehmen, wie sie es braucht, wenn nötig, mit Zwang. Auch solche Stimmen gibt es in der Ukraine.

Der Künstler und Anarchist David Chichkan ist jetzt Granatwerferschütze an der Front in der Region Saporischschja. „Ich fühle mich normal. Das ist eine bewusste Entscheidung, sich normal zu fühlen, denn um immer enttäuschter zu werden, fehlen mir die moralischen Kräfte“, schreibt er mir. „Ich fühle mich normal, ich bin zufrieden damit, wie Selenskyj sich im Weißen Haus verhalten hat. Ich fühle mich normal, weil ich keine Wahl habe, kein Recht, mich schlecht zu fühlen.“

Nachrichten über verstorbene Aktivisten und Kameraden wirkten natürlich demoralisierend, wie auch die Drohnen, die in Kyjiw über das Haus seiner Partnerin fliegen, während sie ihr gemeinsames Kind stillt. „Aber man muss tief einatmen und noch kräftiger ausatmen, und sich mit Eskapismus ablenken.“ Ihm persönlich helfe die Fantasie von einer sozialen ­Ukraine der Zukunft, die den russischen Imperialismus besiegt hat und mit Freiheit und Gleichheit erfüllt ist.

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