Festnahme von Ekrem İmamoğlu: „Die Regierung will ihre Gegner spalten“

taz: Frau Adar, wie bewerten Sie die Vorwürfe gegen Ekrem İmamoğlu?

Sinem Adar: Gegen ihn laufen zwei separate Ermittlungen: Einerseits wird ihm vorgeworfen, der Anführer einer kriminellen Vereinigung zu sein. Der zweite Fall betrifft Vorwürfe, dass er die PKK und eine ihrer Schwesterorganisationen unterstützt habe.

taz: Als wie substanziell sehen Sie diese Vorwürfe?

Adar: Ich habe die ganzen Anklagen nicht gelesen. Aber es ist sehr deutlich, dass die regierenden Eliten in Ankara entschlossen sind, İmamoğlu aus dem Präsidentschaftsrennen zu entfernen. Um die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei ist es nicht gut bestellt. Die Vorwürfe müssen vor diesem Hintergrund betrachtet werden.

taz: Haben Sie seine Festnahme erwartet?

Adar: Wir erleben eine extreme Eskalation. Hinter seiner Festnahme steckt für die derzeitige Regierung eine Logik: Sie will an der Macht bleiben. İmamoğlu ist in der aktuellen politischen Landschaft der stärkste Rivale von Präsident Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen 2028. Wir sprechen hier von dem prominentesten Kandidaten der größten Oppositionspartei der Türkei. Die CHP hat etwa 1 Million Mitglieder und erzielte bei den letzten Kommunalwahlen den höchsten Stimmenanteil.

taz: Sehen Sie eine Verbindung zwischen İmamoğlus Festnahme und der Entlassung von Bürgermeistern in überwiegend kurdischen Städten im Südosten des Landes?

Adar: Ja, es gibt einen erheblichen Anstieg der Repression. Seit 2015 werden stetig kurdische Bürgermeister von ihren Posten abgesetzt. Was wir allerdings in den letzten Monaten beobachten, ist, dass die Repression nun nicht mehr nur die Kurden betrifft. Der Vorsitzende der ultranationalistischen Siegespartei wurde verhaftet und sitzt immer noch im Gefängnis. Bürgermeister von İmamoğlus CHP werden wegen ihrer Zusammenarbeit mit der prokurdischen Partei DEM entlassen.

taz: Warum?

Adar: Das fällt in die größere Strategie der Regierungsallianz, ihre politischen Gegner zu spalten, während sie gleichzeitig versucht, die Opposition nach ihrem eigenen Bild zu formen.

taz: Aber ist das nicht paradox? Die Regierung selbst hat ihre Kontakte zu den Kurden intensiviert und den ehemaligen PKK-Führer Abdullah Öcalan dazu gebracht, die PKK zur Entwaffnung aufzufordern.

Adar: Ich sehe das nicht als Widerspruch. Es gibt eine große Ambiguität, denn es waren die türkischen Nationalisten und ihr Führer Devlet Bahçeli, die diesen Prozess vorangetrieben haben. Einige sehen dies als einen Schritt zu mehr Demokratie, andere betrachten es als einen Verrat an türkischem Nationalismus. Diese Ambiguität hat es den herrschenden Eliten ermöglicht, Unterstützung von konservativen Kurden zu gewinnen, die auch schon in der Vergangenheit die AKP unterstützt hatten. Gleichzeitig konnte die Regierung Unterstützung von Teilen der Liberalen gewinnen.

taz: Aber glauben Sie nicht, dass İmamoğlus Popularität durch die Repression gegen ihn nur steigen wird?

Adar: Ja, das ist fast ein Naturgesetz, dass dies zu einer sehr starken Gegenreaktion gegen die Regierung führen wird. İmamoğlu ist eine sehr charismatische Figur und beliebt. Aber die Frage, die sich für mich stellt, lautet: Die Leute könnten rausgehen, demonstrieren, aber was kommt danach? Ohne größere Strategie der Opposition gäbe es keine oder wenige Auswirkungen auf Repression und das autoritäre System. Darüber hinaus: Wenn er nicht an den Wahlen teilnehmen kann oder verhaftet wird, könnte er zu einem Helden werden.

taz: Welchen Effekt hat die Festnahme auf die türkische Zivilgesellschaft?

Adar: Es gibt ein starkes Gefühl der Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung, sei es wegen der wirtschaftlichen Missstände oder wegen der schlechten Regierungsführung insgesamt. Trotz der Bemühungen der Regierung in den vergangenen 23 Jahren, eine Zivilgesellschaft nach ihrem eigenen Bild zu schaffen, haben sie das nur teilweise geschafft. Sie erleben immer noch Widerstand. Ob dieser Widerstand große Auswirkungen auf das politische System insgesamt haben wird, ist fraglich. Aber ich denke, die Regierung ist sich dessen bewusst: Als İmamoğlu und 106 andere Personen heute Morgen festgenommen wurden, gab es sofort eine Ankündigung des Gouvernats von Istanbul, Demonstrationen für die kommenden vier Tage zu verbieten.

taz: Was erwarten Sie angesichts dieser Repression von der Europäischen Union?

Adar: Klar ist, dass es eine starke Verurteilung dessen geben muss, was passiert. Es geht hier um demokratische Normen. Angesichts der vielen Krisen im Sicherheitsbereich scheint jedoch eine Kooperation mit der Türkei nicht zur Diskussion zu stehen. Für die EU ist es wichtig, ein besseres Verständnis darüber zu haben, welche Art von Beziehungen sie langfristig mit der Türkei aufbauen möchte. Ohne das wird sie immer in einem Konflikt zwischen kurzfristigen Wünschen und ihren Werteverpflichtungen stecken bleiben.

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