L etztes Jahr war mein lieber Onkel Ömer zum Jahreswechsel aus der Türkei bei uns zu Besuch. „Onkel Ömer, was willst du denn in Bremen am liebsten sehen?“, fragte ich ihn neugierig. „Hamburg!“, rief er total begeistert.
„Hamburg ist zwar ein hübscher Stadtteil von Bremen, aber leider ziemlich weit weg“, antwortete ich. „Ist mir egal. Trotzdem will ich St. Pauli jetzt sehen. Später, wenn ganz Hamburg überflutet ist, wird es teuer mit dem U-Boot“, sagte er.
Vorher musste sich Onkel Ömer allerdings die Oma Fischkopf ansehen. Unsere Nachbarin aus der zweiten Etage war nämlich wesentlich gefährdeter als Hamburg. Und auch älter. Sie wurde 94. Und sie hatte uns eingeladen, den Abend gemeinsam zu feiern.
„Prima Idee, Frau Fischkopf, ich bringe auch 50 Chinaböller mit. Die jagen wir vom Balkon aus in die Luft“, freute ich mich. „Herr Engin, sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Feuerwerk zu Weihnachten? Das Fest der Liebe feiert man hierzulande besinnlich“, rollte sie mit den Augen.
„Oh, wir wollten eigentlich heute den Heiligabend im engsten Familienkreis feiern“, sagte ich, um die arme Frau nicht mit ihrer schrecklichen Krankheit zu konfrontieren. „Herr Engin, ich habe kein Alzheimer. Ich weiß, dass heute Silvester ist. Aber ich habe meinen Tannenbaum extra noch nicht entsorgt, damit Ihr Onkel Ömer einmal in den Genuss einer echten deutschen Weihnacht kommt“, klärte sie uns auf. „Echte deutsche Weihnacht am Silvesterabend?“, fragte ich verdattert.
Nur mit Chinaböllern zur Nachbarin
„Osman, lass uns doch hingehen“, mischte sich Eminanim ein. „Aber nur, wenn ich meine Chinaböller mitnehmen darf.“ Am Silvesterabend, kurz nach 18 Uhr, zogen wir uns also fein an und gingen nach oben, um Weihnachten zu feiern.
Im Fernsehen begrüßten die Japaner bereits das neue Jahr. Wir begrüßten Oma Fischkopf und wünschten ihr frohe Weihnachten. Japan war Deutschland in vielen Dingen immer ein ganzes Stück voraus.
„Herr Engin, sagen Sie bitte Ihrem Onkel, dass es gleich losgeht“, freute sich unsere Gastgeberin, kletterte auf einen wackeligen Stuhl und versuchte mit zittrigen Fingern die vielen Kerzen auf dem riesigen Tannenbaum anzuzünden. „Herr Engin, bitte üben Sie inzwischen mit Ihrer Familie schon mal die erste Strophe: Ooooh Tannenbaum, oooohh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätteeerrr…“
Hamburg ist zwar ein hübscher Stadtteil von Bremen, aber leider ziemlich weit weg, antwortete ich
„Ooooh Tannenbaum, Frau Fischkopf, bitte halten Sie Ihre Kerze geradeeee! Ooooh Tannenbaum, gleich fackeln Sie den ganzen Baaaaum aaaab!“
Springen über Tannen
Die alte Oma hörte mich nicht. Aber dafür der alte Baum, der wohl schon seit Wochen in dieser warmen Stube stand und völlig ausgetrocknet war. Die Flammen breiteten sich in Sekundenschnelle aus und der Baum kippte mit großem Getöse um. „Hiiilfeee, rette sich wer kann“, kreischte Oma Fischkopf und sprang über den Baum.
Ich sprang auch rüber, um sie vor den Flammen zu retten. Eminanim hüpfte hinter mir her, um die Gardinen zu retten. Onkel Ömer sprang auch hin und her und klatschte begeistert Beifall. „Toll, Osman! So feiert Ihr in Bremen also Weihnachten. Bisher dachte ich, dass die Deutschen nur zu Ostern über Feuer springen“, lachte er.
„Das stimmt, Onkel Ömer. Aber wenn Weihnachten und Silvester auf den gleichen Tag fallen, dann wird auch über Feuer gesprungen.“