Israel: NGO spricht von möglichen Kriegsverbrechen im Westjordanland

Ramallah taz | Drei Tage lang belagerten die israelischen Streitkräfte das palästinensische Dorf Al-Mughayyr im Westjordanland an diesem Wochenende. Auslöser war ein mutmaßlicher Terrorangriff, den ein 30-jähriger Bewohner des Dorfes auf israelische Hirten in der Nähe des illegalen Außenposten Adei Ad am Donnerstagmorgen begangen haben soll.

Jetzt wirft eine israelische Menschenrechtsorganisation, The Association for Civil Rights in Israel (ACRI), dem Kommandanten des Zentralkommandos im Westjordanland Avi Bluth mögliche Kriegsverbrechen vor. Es ist das erste Mal seit Beginn des Krieges in Gaza, dass eine israelische NGO eine solche Anschuldigung gegen ein Mitglied der israelischen Streitkräfte (IDF) im Westjordanland erhebt.

Nach Angaben des Militärs hat der palästinensische Mann aus Al-Mughayyr am Donnerstag das Feuer auf die Israelis eröffnet, doch niemanden getroffen. Bei dem Handgemenge, das darauf folgte, wurde ein 20-jähriger Siedler am Kopf leicht verletzt. Dann floh der Angreifer, offenbar in Richtung Al-Mughayyr.

Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen schikaniert

Das Militär riegelte das Dorf ab, hinderte Be­woh­ne­r*in­nen an der Ein- und Ausreise und begann mit den Razzien. Dabei sollen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen nach eigenen Angaben schikaniert und Autos zerstört worden sein.

Auf einem Video ist zu sehen, wie ein Soldat einen Steinbrocken hebt und gegen die Windschutzscheibe eines geparkten Wagens wirft. Das Militär schreibt dazu, die Streitkräfte handelten im Einklang mit dem Gesetz und der Vorfall werde gerade untersucht. Maßnahmen gegen den Soldaten würden dann eingeleitet.

Parallel dazu hat das Militär begonnen, Bäume und vor allem Olivenbäume in der Nähe des Dorfes zu entwurzeln. Mehr als 3.000 Gewächse sollen dabei zerstört worden sein. Das Militär sagte, das sei bei der Suche nach dem Angreifer geschehen und um eine lebensbedrohliche Situation vorzubeugen.

Laut Bewohnern des Dorfes war die Aktion hingegen eine Bestrafung der gesamten Gemeinschaft, die größtenteils von der Landwirtschaft lebt. Olivenbäume sind für palästinensische Bäue­r*in­nen eine wichtige Einkommensquelle. Israelische NGOs wie B’tselem stimmen ihnen zu.

NGO spricht von kollektiver Bestrafung

Kurz nach dem Angriff sagte Generalmajor Avi Bluth laut Medienberichten: Jedes Dorf und jeder Feind müssten wissen, wenn sie einen Angriff durchführen, dass sie einen hohen Preis zahlen werden. Sie würden eine Ausgangssperre erleben, sie würden eine Belagerung erleben und sie würden „Gestaltungsoperationen“ erleben – damit sind wohl Operationen gemeint, die das Gebiet verändern und für militärische Zwecke nutzbar machen sollen. Das Ziel sei, alle abzuschrecken – nicht nur dieses eine Dorf.

Noa Sattath, Geschäftsführerin von ACRI, sagt: „Die Aussagen des Generals waren so klar – und so klar illegal“. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei der Operation auf den Feldern neben dem Dorf um eine kollektive Bestrafung handelt. Diese ist unter der Genfer Konvention verboten und stellt eine Verletzung des humanitären Völkerrechts dar. Der Verein hat deshalb eine Beschwerde beim Militäranwalt eingelegt und eine Untersuchung wegen möglichen Kriegsverbrechen gefordert.

Nach Angaben des Vereins hat eine Art Gesetzlosigkeit im Westjordanland monatelang alltägliche Kriegsverbrechen erlaubt. Jetzt prahle das Militär auch noch „öffentlich damit“. Die NGO wirft dem Militär vor, eine ähnliche Doktrin wie in Gaza anzuwenden – nämlich, dass es auch im Westjordanland keine Unschuldigen gebe.

Streitkräfte verurteilen die Vorwürfe

Die IDF hatten bereits erklärt, das Militär habe nur Operationen durchgeführt, die für Antiterroroperationen und die Sicherheit in der Region notwendig waren, im Einklang mit dem Gesetz. Man habe versucht, den Schaden für die Bevölkerung und die zivile Infrastruktur so weit wie möglich zu minimieren.

Die Streitkräfte verurteilten die „unangebrachten Aussagen“ gegen den Kommandanten des Zentralkommandos. Dieser handele auf Grundlage von operationalen Bedenken und nach Gesetz, um die Sicherheit der Staatsbürger Israels zu gewährleisten. Anderslautende Aussagen seien komplett unbegründet.

Gurgen Petrossian, Forscher für internationales Strafrecht an der Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien, sagte der taz, der Vorfall könnte in der Tat als Kriegsverbrechen einzustufen sein. Der Grund: Das Westjordanland befindet sich seit 1967 unter israelischer Besatzung, daher wird auf seinem Gebiet das Völkerrecht angewandt – selbst, wenn hier kein Krieg herrscht, wie aus einer Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs aus dem Jahr 2019 hervorgeht. Damit kann demnach auch von Kriegsverbrechen gesprochen werden.

Nimmt man die Medienberichte als Grundlage, dann handelt es sich nach der Meinung des Juristen sehr wohl um den Einsatz von Kollektivstrafen sowie die rechtswidrige Zerstörung von Eigentum.

  • informationsspiegel

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