A m Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertags 2004 liegt ein Pärchen mit seiner kleinen Tochter am Strand an der Bucht von Khao Lak in Thailand. Mit einer Digitalkamera filmt der Mann den Horizont, wo sich der blaue Himmel und das blaue Meer treffen und sich immer deutlicher eine schäumende Welle abzeichnet, die auf den Strand zurollt. „Boah, dahinter kommt noch ’ne größere“, sagt der Mann. „Was ist das?“, fragt die Frau, „das muss irgendein Seebeben gewesen sein.“ „Nein“, wiegelt der Mann noch ab, um kurze Zeit später festzustellen: „Die hauen auch alle ab, die Thais.“ Bald beginnt auch das Pärchen seine Sachen zu packen.
Einige hundert Kilometer von Khao Lak entfernt, vor Sumatra im Indischen Ozean schiebt sich die Indisch-Australische Kontinentalplatte mit etwa 33 Millimetern pro Jahr unter die eurasische Platte. Dabei zieht die absinkende indische Platte die kleinere Burma-Platte nach unten. Wenige Stunden bevor das Video gefilmt wurde, so glauben Wissenschaftler, war ein Teil der Burma-Platte plötzlich wieder nach oben zurückgeschossen, hatte ihre enorme Energie auf das Wasser übertragen und eine Welle erzeugt, die an manchen Küstenorten mit bis zu 50 Metern Höhe (in Khao Lak waren es bis zu 10 Meter) auf Land traf. Etwa 230.000 Menschen starben in Indonesien, Thailand, Sri Lanka und weiteren Ländern.
Aus Pietätsgründen entschieden sich Radiosender freiwillig dafür, den Song Perfekte Welle für einige Zeit aus dem Programm zu nehmen
In Deutschland war die Anteilnahme groß, wohl auch wegen der Festtage. Ich war damals acht Jahre alt und erinnere mich, wie ich und meine Brüder unsere Sparschweine knackten, um für die Opfer zu spenden. Insgesamt kamen aus Deutschland rund 670 Millionen Euro zusammen.
Die Ergriffenheit wirkte sich gar das Radioprogramm aus. Ein paar Tage nach dem Unglück war ich mit meiner Großmutter in einem Kaufhaus, aus den Boxen schallte Julis Sommerhit „Perfekte Welle“: „Jetzt kommt sie langsam auf dich zu, das Wasser schlägt dir ins Gesicht, siehst dein Leben wie ein’ Film, du kannst nicht glauben, dass sie bricht.“ Kunden beschwerten sich, forderten die Belegschaft auf, das Lied abzuschalten. Aus Pietätsgründen entschieden sich Radiosender freiwillig, den Song „Perfekte Welle“ für einige Zeit aus dem Programm zu nehmen.
Westlicher Blick
Aus der Anteilnahme wurde mit der Zeit eine morbide Faszination. Schon 2006 erschien die BBC/HBO-Produktion „Tsunami – Die Killerwelle“, 2012 folgte das Melodrama „The Impossible“ des spanischen Regisseurs Juan Antonio Bayona. Das ZDF strahlte im Dezember letzten Jahres „Die zweite Welle“ aus. Die sechsteilige Serie handelt von einer Freundesgruppe, die ebenfalls in Khao Lak Urlaub macht und dort vom Tsunami überrascht wird.
Der westliche Blick auf die Katastrophe war oft der Blick der Touristen. Die „Tagesschau“ wies bereits am Abend des 26. Dezember darauf hin, dass die Flut auch das „Urlaubsparadies Malediven“ getroffen habe.
Urlauber waren es oft, die das Anrollen und Anbranden der ersten Welle mit ihren Digitalkameras festhielten. Dabei verweilten viele zu lange an der Küste, nicht ahnend, dass jede weitere Sekunde ihre Überlebenschancen schmälerte. Am schlimmsten betroffen waren jedoch nicht die „Urlaubsparadiese“, sondern Regionen abseits des westlichen Blicks. In Indonesien allein starben nach Schätzung der Regierung 200.000 Menschen. In der Provinz Aceh hatten sich eine islamistische Unabhängigkeitsbewegung und Regierungstruppen seit Jahrzehnten bekämpft. Der Krieg endete nach dem Tsunami, auch weil kaum etwas übrig geblieben war, um das es sich noch zu kämpfen lohnte.
Als das Wasser sich zurückzog, wollten die Überlebenden mit dem Wiederaufbau beginnen. Doch manche gespendeten Euros und Dollars versickerten, landeten in den Taschen von Offiziellen und Geschäftsleuten, anstatt der Bevölkerung zugute zu kommen. Investoren witterten ihre Chance, an den verwüsteten Küstenstreifen neue Hotels und Ressorts zu bauen, dieses Mal noch größer, noch teurer, aber genauso nah am Wasser.
Klimakrise macht es schlimmer
Dass so viele Menschen starben, lag auch an fehlenden Frühwarnsystemen, die seitdem aufgebaut wurden. Sie funktionierten zwar, als 2018 ein kleinerer Tsunami auf Indonesien zurollte. Allerdings versagten buchstäblich auf den letzten Metern viele Lautsprecher an der Küste, die die Menschen vor der Welle warnen sollten.
Die Frühwarnsysteme werden sicherlich erneut benötigt werden – zumal die Plattentektonik von den Folgen der Klimakrise nicht ausgenommen ist. So fanden Wissenschaftler in Potsdam heraus, dass sich mit dem steigenden Meeresspiegel der Wasserdruck auf die Erdplatten erhöht, was zu häufigerem und stärkerem Erbeben führt und das Tsunamirisiko steigert. Ob die Welt wirklich aus der Katastrophe von 2004 gelernt hat, wird sich zeigen, wenn die nächste Welle anrollt.