Kindergesundheitsbericht: Ein Schulsystem, das krank macht

Berlin taz | Stellen Sie sich vor, Sie sind ein zehnjähriges Kind an einer deutschen Schule. Die Pausenhöfe sind überfüllt, die Kantine bietet täglich Brei und bei einem blutigen Knie oder Kummer haben Sie niemanden, der sich gut um Sie kümmern kann. So sieht die Realität an deutschen Schulen aus – zumindest nach dem Eindruck der Stiftung Kindergesundheit.

Am Dienstag stellte die Stiftung in Berlin ihren neuen Kindergesundheitsbericht vor. Das zentrale Ergebnis: Um die Gesundheit von Schü­le­r:in­nen könnte es besser bestellt sein. Das beginnt bei sauberen Klos, gesundem Kantinenessen, mehr Schul­psy­cho­lo­g:in­nen und endet bei besserer medizinischer Betreuung durch Fachkräfte. Deutschland habe als wirtschaftsstärkstes Land Europas hier „noch viel Luft nach oben“, kritisiert Berthold ­Koletzko vom Vorstand der Stiftung Kindergesundheit. Dass Kinder die Schule häufig als einen Ort erlebten, der ihre Herausforderungen nicht versteht und auffängt, sei eine „verpasste Chance“.

Ein weiteres Ergebnis: Deutsche Schü­le­r:in­nen verfügen über eine im europäischen Vergleich niedrige Gesundheitskompetenz. Sie wissen zu wenig darüber, was sie gesund hält. „Deutschland ist Schlusslicht bei der Gesundheitskompetenz“, so Koletzko. Das belegen mehrere Studien der vergangenen Jahre.

Dazu kommen laut Bericht weitere Probleme: zu wenig Bewegung bei der Post-Corona-Generation und die Bedeutung der sozialen Herkunft, die zu häufig noch beeinflusst, wie gesund Kinder und Jugendliche sind. Alle vier Jahre untersucht die Studie „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC) Heranwachsende zwischen 11 und 15 Jahren. Aktuell erreichen hierzulande lediglich rund 10 Prozent der Mädchen und 20 Prozent der Jungen das täglich empfohlene Bewegungsmaß. Etwa 40 Prozent aller Befragten leidet unter psychosomatischen Beschwerden. Zwar gehe es acht von zehn Schü­le­r:in­nen subjektiv gut, aber de facto könnte die Schule noch viel mehr unterstützen. Laut der Studie sei das Schulklima und die dortigen Beziehungen entscheidend für das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen.

Mehr Schul­psy­cho­lo­g:in­nen

Eine konkrete Forderung aus dem Bericht ist die bessere Verzahnung der verschiedenen Fachkräfte im System Schule. Sozialarbeitende, Psy­cho­lo­g:in­nen und der öffentliche Gesundheitsdienst müssten besser zusammenarbeiten. So könne man Lehrkräfte effektiv entlasten. Um das zu ermöglichen, müsse man die herrschende „Projektitis“ von parallel laufenden Einzelprojekten zusammenführen.

Das betrifft etwa das Pilotprojekt „Mental Health Coaches“ des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ), das aus Sicht der Stiftung Kindergesundheit verlängert werden sollte. Das Programm ist zum Schuljahr 2023/24 an bundesweit rund 100 Schulen gestartet und wurde nach einem Jahr von For­sche­r:in­nen der Universität Leipzig positiv bewertet. Ob das Programm über 2024 hinaus verlängert werde, müsse der neue Bundestag entscheiden, teilt das BMFSFJ auf taz-Anfrage mit.

Die Stiftung nimmt aber auch die Länder in die Pflicht. So weist der Bericht darauf hin, dass die Ministerien das selbst gesteckte Ziel einer adäquaten Betreuung durch Schul­psy­cho­lo­g:in­nen nicht erreicht hätten. So erfüllen nur 6 der 16 Bundesländer den entsprechenden Betreuungsschlüssel von maximal 5.000 Schü­le­r:in­nen pro Fachkraft. Angesichts der starken Zunahme psychischer Belastung von Kindern und Jugendlichen müsse dieses Vorhaben nun umgesetzt werden.

Erst vergangene Woche hatte eine Umfrage der Robert Bosch-Stiftung unter Schü­le­r:in­nen gezeigt, dass sich ein Fünftel der Schü­le­r:in­nen psychisch belastet fühlt und nicht alle Schulen Hilfe leisten können. Die Bundesschülerkonferenz forderte von den Ländern mehr Aufmerksamkeit für das Thema – sowie deutlich Schul­so­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen und Schulpsycholog:innen.

Hessen und Brandenburg Pioniere

Auch die Stiftung Kindergesundheit spricht sich für mehr Personal aus: Besonders für die erste Hilfe und für chronisch kranke Schü­le­r:in­nen brauche es Fachkräfte. Diese fehlen aber bereits in der Kinderpflege und somit erst recht in Schulen. Als Positivbeispiel nennt Bertold Koletzko von der Stiftung Kindergesundheit die Schulgesundheitsfachkräfte, die in Brandenburg und Hessen 2017 eingeführt haben.

Das belegen auch Umfragen aus diesen beiden Ländern: 96 Prozent der dort befragten Lehrkräfte gaben an, dass sie sich durch die neue Fachkraft entlastet fühlen. Außerdem konnten chronisch erkrankte Schü­le­r:in­nen dank der Fachkräfte eher partizipieren. Derzeit gibt es allerdings nur 140 Fachkräfte und das ist bei bundesweit über 33.000 Schulen „zu wenig“, so Koletzko.

Die Länder hingegen sehen sich bereits ganz gut aufgestellt. Viele verweisen auf Anfrage auf spezifische Programme für die psychische Gesundheit an Schulen, darunter Sachsen-Anhalt, Niedersachsen oder Bremen. Sachsen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg verweisen zudem darauf, die Stellen für Schulpsychologen in den vergangenen Jahren ausgeweitet zu haben. Mehrere Ministerien wie der Hamburger Senat teilen mit, künftig die Schulsozialarbeit stärken zu wollen.

Der Bildungsgewerkschaft GEW gehen die bisherigen Bemühungen nicht weit genug. „Das Wohlbefinden der Schü­le­r:in­nen muss zum Qualitätsindikator erhoben werden“, heißt es auf Anfrage. Dafür müsste es an allen Schulen im Land Gesundheitspersonal geben. So wie in Skandinavien.

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