Am Ende wurde Kretschmer sogar mit absoluter Mehrheit zum Ministerpräsidenten gewählt. Das hat er mehr den Linken zu verdanken, als seinem eigenen Verhandeln.
H abemus Kretscham, ließe sich in einer Mischung aus Papstwahllatein und der slawischen Bezeichnung für eine Dorfschänke flachsen. Doch nach einer Sause mit Feiersekt war am wenigsten dem im zweiten Wahlgang wiedergewählten Amtsinhaber Michael Kretschmer (CDU) zumute.
Denn demokratietheoretisch interessante Minderheitsregierungen erweisen sich wie in Thüringen seit 2020 als höchst anstrengend und verschleißend. Nicht anders wird es in Sachsen sein, nachdem das Wagenknecht-Bündnis die Verhandlungen über eine Mehrheitskoalition gesprengt hatte. Mit nur der SPD an seiner sicheren Seite wird Kretschmer für jedes Gesetzesvorhaben für Unterstützung aus anderen Parteien werben müssen.
Mehrheitsfindung wird generell schwieriger bei AfD-Stimmenanteilen von bis zu einem Drittel. Zugleich demonstrierten die Septemberwahlergebnisse im Osten den Trend weiterer Aufspaltung in Vertreter verschiedener Partikularinteressen.
Gemeinsinn ist ein veralteter Begriff, „Landesvater“ auch. Deshalb beschwören Kandidaten für eine solche Vaterrolle nur noch die gemeinsame Verantwortung für das Land. Mit einer schwächeren CDU-Hausmacht als in Sachsen hat Mario Voigt in Thüringen gezeigt, dass daraus intensive Sondierungen mit Mehrheitsbeschaffern folgen müssen.
Ignoranz statt Strategie
Sein sächsischer Kollege Kretschmer ist zwar der umgänglichste sächsische Ministerpräsident seit 1990. Und „Demut“ ist seit dem ersten September sein Lieblingswort. Aber er ist kein Stratege, gilt wegen widersprüchlicher Äußerungen als Chamäleon. „Er läuft übers Wasser“, damit spielen Regierungskreise nicht nur auf die Unmöglichkeit seines Vorhabens, sondern auch auf dessen Fragilität an.
So hat er nicht rechtzeitig um Vertrauen geworben. Kretschmers Erbfeinde, die Grünen, kreiden ihm weniger Wahlkampfattacken als seine Ignoranz bis kurz vor der MP-Wahl an. Beim BSW hat er sich erst am Dienstagnachmittag vorgestellt.
Auf einmal erwies sich wie in Thüringen die Linke als staatstragend
Auf einmal erwies sich wie in Thüringen die Linke als staatstragend, ein Teil der Fraktion muss ihn mitgewählt haben. Ein gutes Omen, dass parteiübergreifend doch etwas geht. Mit diesen Schmuddelkindern darf ein linientreuer Christdemokrat aber natürlich eigentlich nicht. Die Mauer muss weg gegenüber Linken und Grünen, wenn Berechenbarkeit einziehen soll.
Jene gegenüber der AfD muss bleiben. Deren Hasardeure versuchten es wie in Thüringen 2020 mit einem Kemmerich-Effekt, als sie im zweiten Wahlgang ihren Landesvorsitzenden Jörg Urban plötzlich fallenließen und für den Solisten Matthias Berger von den Freien Wählern stimmten. Hauptsache, Destabilisierung. Immerhin bleiben Sachsen letztlich Neuwahlen erspart. Das Experiment Minderheitsregierung bekommt so eine Chance.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei!
Jetzt unterstützen