Schwedin Liv Strömquist über neuen Comic: „Die Zukunft ist formbar“

taz: Liv Strömquist, Ihr neuer Comic „Das Orakel spricht“ wirft einen kritischen Blick auf die Selbstoptimierungskultur. Wieso dieses Thema?

Liv Strömquist: Über die letzten Jahre habe ich beobachtet, wie stark diese Selbstoptimierungskultur verbreitet und vermarktet wird. Jeder Aspekt des Lebens soll optimiert und damit effi­zienter gemacht werden. Täglich werden wir mit solchen Inhalten konfrontiert – über Werbung, soziale Medien oder Mitmenschen. Das kritisiere ich in meinem Comic. Es dreht sich viel zu viel darum, wie wir besser leben, aber ich vermisse Diskussionen darüber, was es überhaupt bedeutet, zu leben.

taz: Woher kommt Ihrer Meinung nach dieser verstärkte Drang zur Selbst­optimierung?

Strömquist: Ich denke, das hat etwas mit der Coronapandemie zu tun, die viele Menschen isoliert und einsam gemacht hat. Gleichzeitig war sie etwas, das wir nicht unter Kontrolle hatten. Wenn wir dann zum Beispiel dem Rat von Influencer_innen folgen, die Produkte bewerben, die Effizienz oder Gesundheit fördern sollen, sind das kleine Momente, in denen wir ein Gefühl von Kontrolle zurückerlangen. Durch die Individualisierung und den Kontrollverlust während der Pandemie sind Gespräche rund um Selbst­optimierung im Namen der Gesundheit von Körper und Psyche zum Mainstream geworden.

taz: In Ihrem Werk beschreiben Sie den Tod als ultimativen Kontrollverlust. Ist das auch etwas, das unseren Drang nach Selbstoptimierung schürt?

Strömquist: Bestimmt. Der Tod und das Sterben werden oft verdrängt, weil die Angst davor so groß ist. Es gibt, zumindest im europäischen Kontext, kaum Rituale oder kulturelle Wege, mit dem Tod umzugehen. Die Angst vor dem Tod inspiriert zum Beispiel das Streben nach extremer Gesundheit oder Effizienz – also so viel wie möglich so schnell wie möglich zu tun oder zu erleben. So wird eine Illusion von Kontrolle wiederhergestellt. Diese Narrative sehen wir auch in der Selbstoptimierungskultur. Aber der Tod bleibt unkontrollierbar, und wir sollten das anerkennen.

Der neue Strömquist- Comic

Liv Strömquist: „Das Orakel spricht“. Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. Avant Verlag, Berlin 2024, 248 Seiten, 25 Euro

=”” div=””>

taz: Sollten wir dann besser gar nicht mehr versuchen, uns zu verbessern oder Kontrolle auszuüben?

Strömquist: Nein, ich bin überhaupt nicht dagegen, sich zu verbessern, solange es ein konkretes Ziel gibt und die Optimierung an sich nicht zum einzigen Sinn des Lebens wird. Über die individuelle Ebene hinaus, auf der gesellschaftlichen Ebene, ist Kontrolle sogar essenziell und sollte in Bereichen wie Klimapolitik, Wohnungsbau und Armutsbekämpfung eine größere Rolle spielen. Aber ich glaube, konstante Kontrolle in unserem Privatleben ist nicht gut. Das führt dazu, dass schöne und alltägliche Dinge, wie zum Beispiel Musik hören, zu unlösbaren Aufgaben werden und wir sie nicht mehr genießen können.

taz: Warum ist es wichtig, wie Sie sagen, diese Themen nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftspolitischer Ebene zu behandeln?

Strömquist: Wir sollten diese Themen nicht individualisieren und depolitisieren. Wenn das passiert, wird die Verantwortung für strukturelle Pro­bleme auf Individuen übertragen – eine sehr effiziente Strategie, um Machtstrukturen aufrechtzuerhalten. Zum Beispiel werden für Stressbewältigung oft Ratschläge gegeben wie Meditation oder Spaziergänge, aber selten wird über politische Lösungen wie kürzere Arbeitstage, Grundeinkommen oder die Verringerung von Einkommens­ungleichheit gesprochen. Der Fokus auf individuelle Lösungen lenkt von der Notwendigkeit struktureller Veränderungen ab.

taz: In „Das Orakel spricht“ erzählen Sie von Ratgeber_innen aus verschiedenen Kontexten und Zeiten. Dabei kommen auch historische Figuren wie das Orakel von Delphi vor. Was können wir von ihnen für die Gegenwart lernen?

Strömquist: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Dinge in der Vergangenheit anders waren und sich daher auch in der Zukunft ändern können. Zum Beispiel galten vor 60 Jahren noch ganz andere Dinge als „gesund“ im Vergleich zu heute. Das zeigt auch, dass viele der heutigen „Wahrheiten“ nicht endgültig sind. Ich sehe darin eine großartige Möglichkeit, die Vorstellung zu vermitteln, dass die Zukunft formbar ist und dass wir aktiv an ihr arbeiten können.

taz: Seit Ihrer ersten feminis­tischen Graphic Novel, „Der Ursprung der Welt“ (2017), ist Feminismus zwar weiter in den Mainstream gerückt, aber zugleich erleben wir heute einen Backlash, zum Beispiel im Hinblick auf reproduktive Gerechtigkeit. Wie blicken Sie auf diese Entwicklungen?

Strömquist: Es gibt so viel Wissen über Feminismus, soziale Gerechtigkeit und Diskriminierung. Manchmal fühlt es sich so an, als ob wir Fortschritte machen und die Gesellschaft sich verändert, aber dann machen Politiker_innen offen frauen- und queerfeindliche Politik. Wir gehen Schritte zurück. Warum? Ich wünschte, ich wüsste die Antwort auf diese Frage. Schlussendlich, denke ich, hängt das auch mit den Themen in meinem Buch zusammen, mit Individualisierung und Kontrolle. Menschen haben das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, und versuchen diese zurückzuerlangen, indem sie Macht über andere, meist weniger privilegierte Personen, ausüben.

taz: Warum ist das Medium Comic besonders geeignet, über diese strukturellen Probleme aufzuklären und komplexe gesellschaftspolitische Themen zugänglich zu machen?

Strömquist: Bilder und Zeichnungen können Dinge ausdrücken, die nicht in Worte zu fassen sind. Dadurch ermöglichen sie den Lesenden mehr Freiheit, eigene Gedanken zu den Inhalten zu entwickeln. Die akademischen Texte und Theorien, mit denen ich arbeite, sind oft sehr kompliziert geschrieben und für viele unzugänglich. Comics hingegen werden leichter verstanden und erreichen ein breiteres Publikum. In Comics kann ich akademische Sprache umgehen und trotzdem schlaue Ideen weitergeben. Um gesellschaftliche Veränderung anzustoßen, ist es wichtig, dass Wissen allen Menschen zugänglich ist.

Im Interview: 

Liv Strömquist wurde 1978 in Lund/Schweden geboren und ist eine der einflussreichsten Comiczeichner:Innen. Die studierte Politikwissenschaftlerin illustriert regelmäßig für unterschiedliche schwedische Magazine und Zeitungen und arbeitet als Radiomoderatorin.

In ihrem Comicdebüt „Der Ursprung der Welt (2017)“ lieferte sie einen Einblick in die Kulturge­schichte der Vulva. Zudem setzte sie sich mit Themen wie Schönheits­idealen, Astrologie sowie Liebe und Beziehungen auseinander. „Das ­Orakel spricht“ (2024) ist ihr siebtes Werk.

=”” div=””>

taz: Besteht durch diese vereinfachte und bildliche Wiedergabe der Inhalte nicht ein Risiko, dass Dinge falsch verstanden werden?

Strömquist: Das Risiko besteht bei jedem Text. Meine Werke beruhen auf meiner Interpretation von Theorien und Ideen, mit denen ich mich beschäftige. Ich verstehe auch nicht immer alles richtig. Deshalb liste ich am Ende meiner Bücher immer alle Texte auf, die in dem Buch vorkommen, so können Lesende nachschlagen und sich selbst ein Bild davon verschaffen. Für mich ist das Schreiben eine Art, mir diese Themen selbst zu erklären. Meine Bücher sind eine Einladung, gemeinsam mit mir über diese Themen zu lernen.

taz: In Ihrem Buch zitieren Sie hauptsächlich weiße Personen und die Bilder zeigen weiße und nicht-behindert gelesene Menschen. Sollte nicht gerade ein visuelles Medium wie der Comic diversere Ideen und Körper repräsentieren?

Strömquist: Jedes Medium sollte diverse Perspektiven repräsentieren. Wenn es um reale Personen wie Theodor Adorno geht, basieren meine Zeichnung auf ihrem Aussehen. Im Allgemeinen versuche ich, die Hautfarbe nicht zu spezifizieren. In „Das Orakel spricht“ habe ich Figuren in Farben wie Blau oder Grün gezeichnet, um sie offen für Identifikation zu machen. Ob das geklappt hat, weiß ich auch nicht, aber das ist meine Art, daran zu arbeiten.

  • informationsspiegel

    Related Posts

    Änderungen für Instagram und Facebook: Meta-Konzern beendet Faktencheck
    • January 8, 2025

    Meta-Chef Mark Zuckerberg kündigt eine Abschaffung des Faktenchecks auf seinen Social-Media-Apps an – und will mehr mit Trump „zusammenarbeiten“. mehr…

    Weiterlesen
    Debatte um Arbeitspflicht: Viel Schmutz, wenig Substanz
    • January 8, 2025

    Sind die Vorschläge der CDU zu Arbeitspflicht für Bürgergeldempfangende nur Wahlkampfgetöse? Was im Wahlprogramm wirklich vorgesehen ist. mehr…

    Weiterlesen

    Nicht verpassen

    Änderungen für Instagram und Facebook: Meta-Konzern beendet Faktencheck

    • 0 views
    Änderungen für Instagram und Facebook: Meta-Konzern beendet Faktencheck

    Debatte um Arbeitspflicht: Viel Schmutz, wenig Substanz

    • 0 views
    Debatte um Arbeitspflicht: Viel Schmutz, wenig Substanz

    Sci-Fi-Serie „Nachts im Paradies“: Ein deutsches „Sin City“

    • 0 views
    Sci-Fi-Serie „Nachts im Paradies“: Ein deutsches „Sin City“

    Tik-Tok-Trend „Day in the life“: Effizienz statt Esoterik

    • 0 views
    Tik-Tok-Trend „Day in the life“: Effizienz statt Esoterik

    Vermisster Krankenhaus-Direktor: Sorge um Hussam Abu Safia

    • 0 views
    Vermisster Krankenhaus-Direktor: Sorge um Hussam Abu Safia

    Dänemark, Grönland und Färöer: Eisbär und Widder als Politikum

    • 0 views
    Dänemark, Grönland und Färöer: Eisbär und Widder als Politikum