Soziologe über Deutschlands Wirtschaft: „Die Krise ist teilweise inszeniert“

taz: Herr Dörre, wir blicken in ein Jahr mit einer drohenden großen Wirtschaftskrise und ungewissen politischen Aussichten – wo führt das hin?

Klaus Dörre: Kapitalistische Gesellschaften durchlaufen periodisch immer wieder Krisen. Aber diese ist eine besondere und nicht nur eine deutsche. Es gibt in Europa eine massive Deindustrialisierungsgefahr. Die Industrieproduktion ist in der gesamten EU eingebrochen. Frankreich, Italien und andere haben ähnliche Probleme. Es ist ein tiefer Einschnitt. Allerdings: Die Krise ist nicht naturwüchsig und teilweise ist sie inszeniert.

Im Interview:  Klaus Dörre

ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Uni Jena. Bis 2021 leitete er zusammen mit Stephan Lessenich und Hartmut Rosa das Kolleg Postwachstum.

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taz: Inwiefern inszeniert?

Dörre: Zum Beispiel in der Auto­industrie: Die Hersteller haben über viele Jahre hinweg blendend verdient. Die Boni, die Spitzenmanager verdienen, die Zuwendungen an die ­Aktionäre – bis ins vorige Jahr war alles auf sehr hohem Niveau stabil. Vor der Pandemie hatten wir zehn Jahre eine lange Prosperität. Mit der Pandemie kam es zu einer weltweiten Rezession. Ein Teil der Unternehmen hat das benutzt, um Verlagerungspläne aus der Schublade zu holen, die schon lange existierten.

taz: Haben Sie ein Beispiel?

Dörre: Nehmen Sie Ford: Die Entscheidung, in Saarlouis nicht mehr zu produzieren und das Werk mit 5.000 Beschäftigten weitgehend dicht zu machen, folgte keinen Sachzwängen, sondern unternehmensstrategischen Überlegungen.

taz: Kurz vor Weihnachten konnte die IG Metall bei VW nur mit größter Mühe Werksschließungen und betriebsbedingte Kündigungen verhindern. Ob ihr das auch bei Thyssen­krupp gelingt, ist völlig offen. Wird gerade das deutsche Sozialpartnerschaftsmodell zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften in Frage gestellt?

Dörre: Konfliktpartnerschaftsmodell trifft es besser, weil das nicht so ein harmonistischer Begriff ist: Es hat immer Konflikte gegeben, aber die wurden kooperativ bewältigt. Das war der wahre Kern der Partnerschaft. Was jetzt passiert, ist jedoch eine Zäsur und ein Tabubruch. Was die Arbeitsbeziehung angeht, könnte es sein, dass in der Bundesrepublik ein neues Zeitalter anfängt, zeitverzögert gegenüber anderen Ländern.

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taz: Was soll dieser Tabubruch?

Dörre: Er soll zeigen, dass der deutsche soziale Kapitalismus ausgedient hat. Das Signal ist: Der Einfluss der Gewerkschaften ist zu groß. Es wird ähnlich wie im angelsächsischen Raum auf eine Niederwerfungsstrategie gesetzt. Viele sogenannte Experten empfehlen das: Der gewerkschaftliche Einfluss muss geschmälert werden. Das beruht auf kollektiver Amnesie. In der Krise 2007 bis 2009 hat sich gezeigt, dass das Ansteigen der Arbeitslosigkeit nur verhindert wurde, weil Betriebsräte und Gewerkschaften Instrumente wie Langzeit-Kurzarbeit in den Unternehmen durchgesetzt haben. Da waren alle voll des Lobes über Gewerkschaften.

taz: Viele haben Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes. Ist diese Angst berechtigt?

Dörre: Die derzeitige Krise schlägt noch nicht unmittelbar auf den Arbeitsmarkt durch. Wir haben nach wie vor eine Rekorderwerbstätigkeit, wenn auch mit einem hohen Anteil an prekärer Beschäftigung. Wer seinen Arbeitsplatz verliert, findet in der Regel was anderes. Die Gefahr ist aber, dass die Person einen Gehalts- und Statusverlust erlebt. Das ist die Furcht, die Beschäftigte umtreibt. Es ist noch nicht unbedingt die Angst vor Erwerbslosigkeit.

taz: In früheren Krisen haben Bundesregierungen gegengesteuert. Das ist jetzt nicht der Fall. Wie erklären Sie sich das?

Dörre: Bei aller Kritik hatte ich den Eindruck, dass Robert Habeck es versucht hat. Aber mit Strohfeuer. Es gibt zu wenig Planungssicherheit, auch für die industriellen Akteure. Das führt zur Zurückhaltung von Investitionen, und das ist ein Großteil der Krise. Was wir bräuchten, wäre eine gut durch­finanzierte, langfristig angelegte Industrie- und Wirtschaftspolitik, angefangen von der Infrastruktur bis zu den Knotenpunkten der Transformation. Das hat die Ampel-Regierung nicht gemacht.

taz: Warum nicht?

Dörre: Die Ampel hatte die ökologische Konterrevolution eingebaut mit dem Koalitionspartner FDP. Und damit immer eine Gegenstimme zu Langfristigkeit und Planmäßigkeit. Wir brauchen große Investitionen in die Infrastruktur, 600 Milliarden jährlich Minimum. Das muss finanziert werden. Dass das mit Schuldenbremse in der jetzigen Form nicht geht, ist klar. Wer will, dass umgebaut, also dass real dekarbonisiert wird, braucht einen Plan dafür. Wenn Sie auf grünen Wasserstoff umstellen wollen, dann braucht es eine Preisgarantie, zumindest einen Korridor, innerhalb dessen sich die Produktion von grünem Wasserstoff bewegt. Wenn Sie das nicht haben, kriegen Sie die Investitionen nicht.

taz: In einem Punkt hat die Bundesregierung etwas getan: Sie hat die Förderung für E-Autos quasi über Nacht gekippt.

Dörre: Das war fatal. Genauso fatal ist, dass das Klimageld nicht gekommen ist. Das sind zwei Grundfehler.

taz: Wieso macht ein Grüner wie Habeck, dessen Partei wie keine andere für eine konsequente Klimapolitik steht, solche Fehler?

Dörre: Die Grünen haben nicht genügend gesehen, dass ökologische Nachhaltigkeit ohne soziale Gerechtigkeit nicht zu machen ist. In der Facharbeiterschaft in der Automobilindustrie besteht der Eindruck, dass sie in ihr jeweiliges Konzept von guten Leben eingreifen. Das Problem der Grünen ist, dass sie das einfach nicht wahrhaben wollen. Nun verlieren sie nicht nur die Arbeiter, die in großen Teilen ohnehin nie zu ihrer Anhängerschaft gehörten. Sie machen sie sich zu Feinden.

taz: Gleichzeitig droht, dass die neue Regierung – egal wie zusammengesetzt – Klimapolitik nur über den CO2-Preis macht.

Dörre: Genau das ist ökologische Konterrevolution. Wird nur über Markt und Preis reguliert, drohen zwei Effekte: Entweder der Preis ist zu niedrig, dann hat er keine Lenkungswirkung für die Wirtschaft. Ist er zu hoch, werden die kleinen Portemonnaies am stärksten belastet, wenn es keinen Ausgleich wie das Klimageld gibt, was ja nur ein partieller Ausgleich wäre. Das könnte bedeuten, dass jene Erfolg haben, die suggerieren, man könne so weitermachen wie bisher. Im Moment erleben wir, dass die ökologischen Fragen nicht nur in Deutschland in brachialer Geschwindigkeit von der Platte geputzt werden. Untätigkeit wird dazu führen, dass ökologische Großgefahren in ihren Wirkungen umso stärker werden. Mit einer zerstörten Natur lässt sich aber keine florierende Wirtschaft machen.

taz: Die Krise müsste eigentlich der Linken nützen. Aber die gesellschaftliche und die politische Linke sind in der absoluten Defensive. Warum?

Dörre: Es ist nirgendwo in einem relevanten Maß gelungen, die himmelschreiende Ungleichheit so zu politisieren, dass sie Wasser auf die Mühlen der Linken ist. Das gilt nicht nur für Deutschland. In Griechenland und Spanien feierten Parteien wie Syriza und Podemos zwar kurzzeitig spektakuläre Wahlerfolge, aber der politische Effekt war letztlich gleich Null. Niemand traut der Linken – in all ihren politischen Strömungen – noch zu, dass sie an den als ungerecht empfundenen Vermögens- und Einkommensverhältnissen etwas zu ändern vermag. Niemand glaubt ernsthaft, dass die Elon Musks dieser Welt tatsächlich zur Kasse gebeten werden.

taz: Welche Folgen hat das?

Dörre: In repräsentativen Umfragen sagen über 90 Prozent, der gesellschaftliche Reichtum müsste gerechter verteilt sein. Aber je weniger geglaubt wird, dass das möglich ist, desto stärker ist die Tendenz, die wahrgenommenen Unterschiede im eigenen sozialen Umfeld zu Gegensätzen um Alles oder Nichts aufzubauschen. Das ist der Effekt, und das geht gegen die Linke. Die AfD inszeniert das: Da werden Oben-Unten-Konflikte umdefiniert in Konflikte zwischen den Nicht-Anspruchsberechtigten, die von außen einwandern, und denen der sogenannten autochthonen Bevölkerung, die angeblich ihres Sozialvermögens beraubt wird.

taz: Wie kann ein Ausweg aussehen?

Dörre: Es gibt keine leichte Antwort. Aus meiner Sicht gibt es gegenwärtig keine linke Partei in Deutschland, die in der Lage wäre, Hoffnung neu zu mobilisieren. Keine linke Kraft besetzt, was ich als linksgrün bezeichnen würde: eine politische Formation, die ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit zusammenbringt. Und die das durch Personen glaubhaft vertreten kann, die in der Zivilgesellschaft verankert sind, und zwar auch in der Arbeitswelt.

taz: Klingt nicht sehr hoffnungsvoll.

Dörre: Immerhin würde ich nicht ausschließen, dass sich neue Formationen gründen. Nach der Bundestagswahl wird sich die Frage stellen, ob sich im Parteienspektrum etwas neu formieren muss. Auch der linke Flügel in der Sozialdemokratie ist ja marginalisiert. Und in den Grünen gibt es trotz des Endes der Ampel eine enorme Unzufriedenheit mit dem Kurs der Parteiführung, und zwar bei Mitgliedern, die zum Teil jahrzehntelang dabei sind. Die würden sich aber nicht der Linkspartei anschließen.

taz: Was wäre das Verbindende?

Dörre: Ich werfe mal das Stichwort ökologischer Sozialstaat in die Debatte. Das würde zum Beispiel heißen: Je größer der ökologische Fußabdruck – der steigt mit Einkommen und Vermögen – desto größer muss der Anteil sein, den jemand leistet für den sozial-ökologischen Umbau. Das wäre ein fundamentales Gerechtigkeitsprinzip. Es würde auch bedeuten, die sozialen Sicherungssysteme robust zu machen, vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln. Dass die soziale Frage im Kontext der ökologischen Frage gestellt werden muss, das geht gar nicht mehr anders im 21. Jahrhundert. Aber umgekehrt gilt das eben auch.

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