Animationsfilm „Memoiren einer Schnecke“: Knetfräulein mit Schneckenaugen

Eigentlich ist es ein kleines Wunder, dass heutzutage immer noch Stop-Motion-Filme mit Knetfiguren produziert werden. Der Australier Adam Elliot hat sich auf diese aufwendige Animationstechnik spezialisiert – und darauf, die liebenswert-skurrile Anmutung seiner Knetpüppchen zu kontrastieren mit einem melodramatisch aufgeladenen Storytelling. Die Drehbücher pflegt er selbst zu schreiben. Für seinen Kurzfilm „Harvey Krumpet“ gewann Elliot 2004 einen Oscar; in diesem Jahr ist sein zweiter Lang-Spielfilm, „Memoir of a Snail“, für den Oscar als bester animierter Spielfilm nominiert.

Es sei vorausgeschickt, dass die Geschichte von Grace, der Hauptfigur in „Memoiren einer Schnecke“, eine Art Happy End haben wird. Alles andere wäre kaum auszuhalten, denn die geplagte Heldin hat ein ordentliches Päckchen Elend zu tragen.

Grace ist ein rundliches Knetfräulein mit traurigem Gesicht und einer braunen Mütze, an der an zwei wippenden Drähten zwei kugelrunde Augen angebracht sind – Schneckenaugen, die Grace’ Vater, wie sie erzählt, für das Töchterchen aus seinen einstigen Jonglierbällen gebastelt hat. Mit diesem Accessoire trägt Grace das Unglück ihrer Familie sozusagen ständig mit sich herum.

Die Mutter ist tot, gestorben bei der Geburt der Zwillinge – ja, Grace hat einen Bruder, Gilbert, den sie sehr liebt –, der Vater, der die Familie als Straßenjongleur durchgebracht hat, verliert nach einem Unfall seine Jonglierfähigkeiten und wird Alkoholiker. Als auch er stirbt, werden die Zwillinge getrennt und an entgegengesetzten Enden Australiens in Pflegefamilien gegeben.

Der Film

„Memoiren einer Schnecke“. Regie: Adam Elliot. Australien 2024, 95 Min.

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Entfremdet von der Welt

Während Grace in geordneten Verhältnissen, aber ohne Geborgenheit aufwächst, landet der eigenwillige Gilbert in einer Familie radikaler Evangelikaler, die alles tun, um ihn umzuerziehen. Grace vermisst den Bruder schrecklich, lebt entfremdet von der Welt, zieht sich in jeder Hinsicht immer mehr in ihr Schneckenhaus zurück und beginnt, Gegenstände in Schneckenform zu horten.

Eine kurze Ehe verläuft unglücklich, per Brief erhält Grace irgendwann die Nachricht vom Tod des geliebten Bruders; und die einzige Freundin, die sie je hatte, eine fidele alte Lebenskünstlerin, ist gleich zu Beginn des Films gestorben. Der Großteil von Grace’ Geschichte wird von diesem Schicksalsschlag an in Rückschau erzählt.

Einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner Wirkung bezieht der Film aus der Diskrepanz zwischen dieser tiefschwarzen Storyline und der verschrobenen Niedlichkeit der Knetfiguren und ihrer Welt. Das ist nicht ganz unproblematisch, denn wenn man sich zum Beispiel fragte: Würde ich mir diesen Film auch gern ansehen, wenn das Drehbuch mit „echten Menschen“ realisiert worden wäre? – dann würde die Antwort wahrscheinlich eher Nein lauten.

Grace’ und Gilberts Geschichte ist so überbordend voll mit Unglück, dass es fast schon beliebig wirkt. So viel geballte Misere braucht unbedingt einen Kontrapunkt; und der liegt in diesem Fall nicht in der Erzählung, sondern im Visuellen. Der Film ist von Anfang bis Ende toll anzusehen. Adam Elliot ist auch sein eigener Production Designer und füllt diese Rolle zweifellos mit inspirierter Hingabe aus. In zahllosen visuellen Details ist ein liebevoller Humor am Werk, der allerdings auch widersprüchliche Botschaften vermittelt.

Das Allzuniedliche

Manchmal schwappt er ins Sarkastische – am Überlandbus, der Gilbert von Grace fortbringt, etwa steht der Werbeslogan „Connecting people“. Dann wieder ins Allzuniedliche: All die Schnecken-Accessoires, die Grace um sich versammelt, verbreiten ein solches Feelgood-Ambiente, dass Grace’ Unglücklichsein darin fast unangemessen wirkt. Dass Grace keine einfache Sammlerin, sondern eine pathologische Hoarderin ist, wird so jedenfalls nicht vermittelt.

Eine Ursache solcher leichten inhaltlichen Unwuchten liegt wahrscheinlich in der Arbeitsweise des etwas allzu allmächtigen Regisseurs/Autors/Designers, der im Presseheft freimütig erzählt, er beginne zunächst immer mit all den Details, die er im Film unterbringen wolle, „und finde dann irgendwie einen Weg, sie aneinanderzureihen“. Da kann es natürlich passieren, dass von den gehoardeten Ideen manche sich nicht so richtig ins Gesamtbild fügen. Und Kunst lebt sehr oft eben auch vom Weglassen.

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