Trümmer und Träume in Syrien: In der Heimat ohne Wurzeln

I ch hätte nicht gedacht, dass die Rückkehr in meine Heimatstadt Ma’arat Harma in der Provinz Idlib so hart werden würde. Sechs Jahre nach unserer Vertreibung durch Assads Truppen machte sich meine Familie am ersten Dezember 2024, noch vor dem Fall des Regimes, für einen kurzen Besuch von nur wenigen Stunden auf den Weg dorthin. Unsere Stadt war gerade von HTS-Rebellen befreit worden.

Bei unserer Vertreibung, in jener Nacht im Mai 2019, waren Flugzeuge über unserem Haus gekreist. Sie bombardierten alles. Ich erinnere mich daran, wie meine kleine, damals achtjährige, Schwester betete, dass wir überleben würden. Um fünf Uhr morgens stoppten die Bombardierungen für eine kurze Weile, so dass wir mit unserem kleinen Auto und wenig Gepäck fliehen konnten. Ich nahm nur mein Tagebuch, meine Kamera, meine Lieblingspuppe und ein paar Kleidungsstücke mit.



Bild: Privat


Hanin Al-Sayed

Seit 2011 berichtete Hanin Al-Sayed als Reporterin über den syrischen Bürgerkrieg und aktuell über den politischen Übergang des Landes. Als Korrespondentin arbeitete sie für verschiedene unabhängige lokale und regionale Medien und beschäftigte sich vor allem mit Frauen- und Umweltthemen im Norden Syriens. Für eine investigative Reportage über den Drogenkonsum von Frauen wurde sie für den True Story Award 2025 nominiert. Derzeit ist sie eine von elf Teilnehmerinnen des Projekts „Her turn – Supporting Syrian female journalists“, das von der taz Panter Stiftung initiiert wurde.

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Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die die Landwirtschaft liebt. Mein Vater bezeichnet sich als Bauer, obwohl er Lehrer in der Schule von Ma’arat Harma war. Meine Mutter ist Hausfrau, die das Landleben liebt und Olivenbäume verehrt, die sie, trotz ihres hohen Alters, nach wie vor mit ihren Händen pflegt.

Unser Bauernhaus war früher von mehr als zweitausend Olivenbäumen umgeben. Diese Bäume waren nicht nur Lebensgrundlage, sie waren das Herzstück der Familie. Einige von ihnen waren mehr als zweihundert Jahre alt, wurden von unseren Großvätern gepflanzt und an unsere Väter vererbt. Wir hofften, sie an unsere Kinder weitergeben zu können.

Die Wiege des Olivenbaums

In unserer Region symbolisiert der Olivenbaum Beständigkeit und Verwurzelung und gehört zu unserer Identität. Er erzählt Geschichten, wie die Menschen hier mit ihrem Land verbunden sind. Wir feiern seine Jahreszeiten, bewahren seine Standorte, wir schätzen seine Sorten und den Geschmack seines Öls. Wir kennen jeden einzelnen Baum so gut wie unsere Familienmitglieder.

Der Wagen der Familie der Autorin beladen mit dem Nötigsten während der Flucht der Familie im Jahr 2019



Foto: Hanin Al-Sayed


Der Anbau von Olivenbäumen in Idlib reicht mehr als sechstausend Jahre zurück. Man nimmt an, dass die Wiege des Olivenbaums in Syrien liegt, archäologische Funde in der Nähe von Aleppo deuten darauf hin, dass die alten Syrer die Bäume als wichtige wirtschaftliche und kulturelle Ressource nutzten. Schätzungsweise 106 Millionen Olivenbäume gibt es landesweit, fast die Hälfte wachsen in den nördlichen Regionen rund um Idlib und Aleppo.

Anfang Dezember 2024 kehrte ich also in meine Kleinstadt zurück und fand nichts mehr vor: kein Elternhaus, keine Bäume, keine Erinnerungen. Ich fuhr denselben Weg, auf dem wir 2019 vertrieben worden waren, der damals von Olivenbäumen gesäumt war wie ein Meer.

Ausgelöschte Erinnerung

Heute liegt an dem Ort, an dem unser Haus stand, nur ein Haufen Steine, die Olivenhaine sind verschwunden. Geblieben ist öde, unfruchtbare Erde. Alle Bäume wurden systematisch gefällt und verbrannt, so als wollte das Assad-Regime unsere Wurzeln kappen und jede noch so kleine Spur, die darauf hindeutete, dass wir hier lebten, auslöschen.

Was uns geschah, ist kein Einzelfall. Millionen von Olivenbäumen in der Region Idlib wurden während der Zeit, in der die Provinz unter Assads Kontrolle stand, gefällt, versteigert, verbrannt. Für unsere Familie ist dies nicht nur ein enormer wirtschaftlicher Verlust, vielmehr ein gezielter Angriff auf unsere Identität. Wer einen hundertjährigen Baum fällt, will doch kein Brennholz haben, er zerstört Wurzeln und versucht die Erinnerung auszulöschen.

Der Bruder der Autorin bewässert einen Olivenbaum in der Hoffnung, daß die Bäume wieder so schön wachsen werden wie früher



Foto: Hanin Al-Sayed


Die Heimatstadt Ma’arat Harma von Hanin Al-Sayed in besseren Zeiten



Foto: Hanin Al-Sayed


Wie aber soll ein Mensch in seine Heimat zurückfinden, um dessen Wurzeln er beraubt wurde? Wie kann er sich eine Zukunft an einem Ort aufbauen, an dem die Vergangenheit keine Spuren hinterlassen hat? Am meisten verwirrt mich heute die Hartnäckigkeit, mit der unsere Olivenbäume gefällt wurden. Denn die Abholzung erfordert große Anstrengungen, schweres Gerät und viel Entschlossenheit. Welcher Hass treibt einen Menschen dazu an, all diese Mühen auf sich zu nehmen?

Neuanfang

In diesen Tagen sprechen die Menschen viel über den politischen Wandel in Syrien, über einen Neuanfang mit einer neuen Verfassung, über die Chancen zur Aussöhnung der Gesellschaft. Doch kaum jemand fragt, wohin die Vertriebenen zurückkehren sollen. Eine Rückkehr in unsere Stadt ist derzeit fast unmöglich. Es gibt keine Häuser, kein Wasser, keinen Strom, nichts.

Unsere Familie würde viele Jahre, Kraft und Geld benötigen, um die verloren Häuser wieder aufzubauen und die Olivenhaine neu zu bepflanzen. 
 Das bedeutet nicht, dass wir unsere Heimat aufgeben. Wir werden sie besuchen und zurückkehren, wann immer wir können. Wir werden die wieder aus der Erde sprießenden Baumwurzeln gießen und neue Bäume pflanzen.

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