
Wer darf heute wen spielen? Muss es erlaubt sein, dass Nicht-Migrant:innen Migrant:innen und weiße Personen People of Color verkörpern? Oder umgekehrt? Längst haben die Debatten über Identität und kulturelle Aneignung die Bühnen erreicht, weswegen von Stereotypen oder dem Ursprungstext abweichende Besetzungen stets politische Implikationen mit sich bringen.
Um sich diesen Diskussionen zu entziehen, schrieb die 2019 verstorbene Toni Morrison 1983 mit „Rezitativ“ eine Erzählung, in der bis zuletzt nicht klar ist, welche der beiden Heldinnen eine dunkle Hautfarbe hat. Die Nobelpreisträgerin unterläuft daher Essentialisierungen, will uns Leser:innen davon abhalten, sofort diese oder jene Projektion auf ihre Figuren zu werfen.
Keine leichte Aufgabe für das Schauspiel, das ja zwangsläufig illustrieren muss. Und doch hat das Münchner Residenztheater für die deutschsprachige Erstaufführung der Geschichte einen passenden Weg gefunden. So besetzt Miriam Ibrahim „Rezitativ“, als eigenes Buch posthum erschienen, mit vier hinsichtlich der Hautfarbe diversen Darsteller:innen. Entsprechend dem Aufdruck auf ihren uniformen Kleidern, „This is a Test“ („Dies ist ein Test“), versuchen Linda Blümchen, Sabrina Ceesay, Evelyne Gugolz und Isabell A. Höckel wechselweise in die Psychen der Protagonistinnen einzutauchen, ohne jedoch die Distanz aus der Gegenwart heraus auszugeben.
Die Autorin thematisiert schlaglichtartig die Race-Konflikte ihres Heimatlandes.
Das Geschehen erstreckt sich auf mehrere Dekaden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nachdem Twyla und Roberta in einem Waisenhaus aufwachsen, treffen sie im Laufe der Zeit, deren Vergehen durch eine Drehbühne markiert wird, immer wieder zufällig aufeinander. Einmal in einer Howard-Johnson’s-Filiale, der ersten Fastfood-Kette der USA, die einst schwarze Aktivist:innen besetzten, ein andermal im Rahmen eines Protests gegen das sogenannte School-Busing-Projekt in den 1970er Jahren. Zur Überwindung der Segregation transportierte man damals weiße und schwarze Schüler:innen in Lehreinrichtungen unterschiedlicher Stadtteile. Auf diese Weise streift die Autorin des Textes schlaglichtartig die Race-Konflikte ihres Heimatlandes.
Den Ursprung der Gewalt macht sie indes nicht an ethnischen Hintergründen fest, was sich insbesondere an einem gemeinsamen Trauma von Twyla und Roberta zeigt. Mehrfach thematisieren sie Übergriffe auf eine behinderte Küchenhilfe im Heim. Wer von beiden wie daran beteiligt war, lässt sich nicht zweifelsfrei sagen. Morrison will damit veranschaulichen, dass eben nicht die Hautfarbe ausschlaggebend für die Frage ist, ob jemand abdriftet oder kriminell wird. Vielmehr scheinen Armut und soziale Aspekte wie Einsamkeit eine Rolle zu spielen.
Statt einzelner Gruppen rückt Miriam Ibrahimi in ihrer Inszenierung allein den Menschen in den Vordergrund. Schon ihre Kulisse (Bühne: Mitra Nadjmabadi) unterwandert alles Trennende. Wir blicken auf türkisfarbene Gerüste. Mal mit Spiegelflächen versehen, mal begehbar, symbolisieren sie aneinander befestigte Türen. Man klappt sie auf, klappt sie zu, so oder so bleiben sie transparent.
Neonwesten bleiben rätselhaft
Zum einen dokumentiert diese Raummetapher die Verletzlichkeit der Figuren, zum anderen grenzt sie nur vordergründig Zimmer und Personen voneinander ab. Es wohnt diesem Entwurf daher eine freiheitliche Vision inne, genauso wie eine dezente Anspielung auf unser Hier und Heute. Denn arrangiert sind die Metallkonstruktionen vor einem orangen Hintergrund, der einen etwa an den Orange Day, also den Tag gegen Gewalt an Frauen und für eine offene Gesellschaft, erinnert.
Auf dieser für Emanzipation stehenden Bühne läuft das Quartett hin und her, erinnert, denkt nach und spricht zumeist zum Publikum. Eine Mixtur aus Pop-Songs und bisweilen melancholischen Instrumentalstücken sorgt für die nötige Variation. Obgleich man sich etwas mehr Bilder gewünscht hätte und sich einige nicht erschließen – wieso ziehen die Spielerinnen zum Beispiel ständig neongelbe Westen und Kleider an? –, haben wir es mit einer soliden und schlüssigen Interpretation der Vorlage zu tun.
Beachtlich auch der Mehrwert für die deutsche Theaterlandschaft. Während etwa zunehmend willkürlich Männer Frauenrollen oder umgekehrt übernehmen, offenbart „Rezitativ“, wie bedeutsam eine tatsächlich gezielte Diversifizierung der Besetzung sein kann. Die Aufführung hebt niemanden hervor, diskriminiert weder negativ noch positiv, sondern normalisiert, fußend auf einem raffinierten Prosawerk, die Vielfalt auf der Bühne. Wenn dies alles nun wirklich ein Test war, dann ist er gewiss gelungen!






