
Aus Angst vor Protesten hat der Gouverneur von Istanbul für die kommenden vier Tage jegliche Demonstrationen, Kundgebungen und Versammlungen verboten. Die wichtigsten U-Bahn-Stationen wurden gesperrt, große Straßen sind ebenfalls dicht. Außerdem wurden die sozialen Medien eingeschränkt und verlangsamt. Das betrifft Instagramm, X, Youtube und Whatsapp. Die kasernierte Anti-Aufstands-Polizei wurde derweil von dem Busunternehmen Kamil Koc, das einem deutschem Unternehmen gehört, an die Brennpunkte der Stadt gefahren. Als Reaktion auf die Festnahme İmamoğlu verlor die türkische Lira erheblich an Wert gegenüber Dollar und Euro. Auch die türkische Börse machte große Verluste, bevor sie vorübergehend geschlossen wurde.
Kurz vor seiner Festnahme veröffentlichte İmamoğlu noch ein Video, in dem er versicherte, er werde nicht aufgeben. „Eine Handvoll Leute, die den Willen der Nation missachten, haben die Polizei instrumentalisiert, um das Böse durchzusetzen. Ich werde nicht aufgeben, ich werde weiterhin dagegen ankämpfen. Ab heute sind alle Rechte in Gefahr, ich vertraue auch den Gerichten nicht mehr.“ Um 10 Uhr türkischer Zeit wurde Imamoglu in die Zentrale der Sicherheitspolizei in Istanbul eingeliefert. Er wird heute noch einem Haftrichter vorgeführt und verschwindet dann im Untersuchungsgefängnis.
Obwohl die nächsten Präsidentschaftswahlen regulär erst im Frühjahr 2028 anstehen, gibt es seit längerem Gerüchte, dass Erdoğan die Wahlen vorziehen könnte
Die Festnahme am Mittwochmorgen ist der Höhepunkt eines Kesseltreibens gegen İmamoğlu, das seit mehreren Monaten im Gange ist. In schneller Folge wurden gegen den Oberbürgermeister seit Ende letzten Jahres insgesamt vier neue Ermittlungsverfahren eingeleitet, zwei waren bereits in Gange. Nachdem er vor einigen Wochen offiziell erklärt hatte, er werde sich in der parteiinternen Wahl um die Kandidatur für den Präsidentschaftskandidaten seiner Partei bewerben, begannen Erdoğans Anhänger die Istanbuler Universität unter Druck zu setzen, damit sein Uni-Diplom annuliert wird. In der Türkei können nur Akademiker für die Präsidentschaft kandidieren. Am Dienstagnachmittag gab die Universität unter massivem Druck nach und widerrief İmamoğlus Diplom in Volkswirtschaft.
İmamoğlu ist der populärste Politiker der Türkei
Ekrem İmamoğlu, der im letzten Jahr mit großer Mehrheit zum Oberbürgermeister von Istanbul wiedergewählt worden war, gehört seit Jahren zu den wichtigsten Konkurrenten von Präsident Erdoğan. Der Zeitpunkt der Verhaftung am Mittwoch hängt damit zusammen, dass seine Partei, die sozialdemokratisch-kemalistische Volkspartei CHP, ihn am kommenden Sonntag als ihren Präsidentschaftskandidaten küren wollte. Laut Parteichef Özgür Özel will man an diesem Plan festhalten und İmamoğlu trotz seiner Festnahme am Sonntag nominieren. Özel nannte die Festnahme İmamoğlus einen De-facto-Putsch. İmamoğlu hatte in den letzten Wochen eine Wahlkampftour durch die gesamte Türkei absolviert. Obwohl die Regierung dafür gesorgt hatte, dass er kaum eine Halle mieten konnte, kamen seine Anhänger in Massen auch zu Kundgebungen im Freien.
Nach etlichen Umfragen ist Ekrem İmamoğlu derzeit der populärste Politiker der Türkei. In Umfragen liegt er weit vor Erdoğan, und auch die CHP führt in Umfragen vor der AKP, der Partei des Präsidenten. Der Grund dafür ist, dass Erdoğan die massiven Wirtschaftsprobleme, die hohe Inflation und den damit verbundenen Kaufkraftverlust für die Bevölkerung nicht in den Griff bekommt. Schon bei der letzten Präsidentenwahl im Mai 2022 sollte İmamoğlu eigentlich als gemeinsamer Kandidat für insgesamt sechs Oppositionsparteien antreten. Er musste allerdings seine Kandidatur zurückziehen, nachdem er schon damals in einem politisch motivierten Verfahren in erster Instanz verurteilt worden war.
Obwohl die nächsten Präsidentschaftswahlen regulär erst im Frühjahr 2028 anstehen, gibt es seit längerem Gerüchte, dass Erdoğan die Wahlen vorziehen könnte. Laut Verfassung darf er nicht mehr antreten, es sei denn, das Parlament wird vorzeitig aufgelöst. Eine andere Möglichkeit für Erdoğan wäre eine Verfassungsänderung, doch dazu fehlt ihm noch die Mehrheit. Viele Beobachter sehen die möglichen Friedensverhandlungen mit der PKK auch in diesem Zusammenhang, weil Erdoğan hofft, dann die kurdischen Abgeordneten im Parlament für eine Verfassungsänderung gewinnen zu können.